Frank DukOwski

Mein Bild
wurde in Wuppertal geboren, arbeitete am Staatstheater, in der Nervenklinik, in engen Kellern, im Baum und im Internet, lebt in Berlin und an anderen Orten und ... glaubt an höhere Mächte. Dieser Blog soll dazu dienen, Geschichten, Gedichte, Fotos und Filmexperimente zu veröffentlichen, kurz: Dinge, die (wenn nicht in Lesungen) bislang kein passendes Podium hatten.

Mittwoch, 29. Januar 2025

 





DAS  

RAUSCHEN 

IM DIEPMANNSBACHTAL


 Erzählung




 


von


F. S. Dukowski

(Fassung Okt. 23)



„The Old Ones were, the Old Ones are,

 and the Old Ones shall be.“

(Olaus Wormius, zugesch.)

I.

Wenn man im Bergischen von der A1, wo die Autobahn nordwärts eine ungewöhnliche Steigung aufweist, die Ausfahrt in Richtung Outlet-Center wählt, sich dann aber fälschlich links hält, kommt man rasch auf eine schmale Straße oder eher einen asphaltierten Feldweg, der überraschend schnell in ein tiefes, schmales Tal führt.

Der Weg, der kurz zuvor noch an den vorstädtischen Mehrfamilienhäusern des mittelalterlichen Lempe vorbei an sonnenbeschienenen Weiden führte, klammert sich bald an die jähe Schräge des Abhangs, immer wieder gesäumt von hochgewachsenen, alten Buchenbeständen. Plötzlich versinkt er dann unmittelbar in dem beängstigendem Gefälle eines links und rechts begrast aufragenden Hohlwegs, tief im Tal. Er mag sich mit den Jahrhunderten, in denen sich der Handelsweg von Köln nach Westfahlen hier schlängelte, in den lehmigen Boden gegraben haben. An dieser Stelle hat man die Ziegelbögen der schweren, veralteten Autobahnbrücke, die sich verdunkelnd über den einspurigen Asphaltstreifen beugt, bereits passiert. Man empfindet unwillkürlich eine Beklemmung darüber, wie tief sich dieses Tal, und damit die beabsichtigte oder, — wie in meinem Fall, versehentlich oder durch tiefere Vorsehung gewählte Route, in die dicht bewaldete Landschaft schneidet. Es wäre verfehlt zu beschreiben, wie die Berge sich erhöhen, denn sie bilden mehr ein gipfelloses, beidseitiges Drücken von immer dichter bewachsenen Flanken. Und wenn man den Hohlweg mit dem Auto passiert hat, befürchtet man zunehmend auf der schmalen Straße den Halt zu verlieren und in unbekannte Tiefen abzurutschen, an deren Grund ein Bach fließen mag, der sich schon seit Urzeiten in das Tal gefressen hat, als im wasserreichen Bergischen Land kaum Menschen siedelten. Als wollten die Wälder sich über dir schließen, verdunkelt sich dieses Tal, je weiter du deinen Weg fortsetzt. 

Stößt man in dieser nasskalten Klemme unerwartet auf ein Gebäude, erschrickt man vielleicht vor der Vorstellung, an einem solchen Ort längere Zeit, vielleicht auch die Nacht oder gar Tage, Wochen und Monate zu verbringen. Es erscheint auf unbestimmte Weise erdrückend und wohlmöglich auf Generationen ungesund, ein ganzes Leben in solch lichtarmer Abgeschiedenheit zu fristen. Was für ein Menschenschlag mag in dieser Dunkelheit gedeihen?

Die Häuser in den bergischen Wäldern sind alt. Viele zählen Jahrhunderte, wirken jedoch durch die Verschmelzung mit ihrem Milieu älter, da die uralte Natur des Waldes sie nicht dulden würde, ohne sie in geheimnisvoller Weise zu Seinesgleichen zu machen. Sie stammen aus der Zeit vor der Erfindung jeglicher Motoren, als die Kraft des in dieser regenreichen Region ganzjährig fließenden Wassers noch ausgiebig genutzt wurde. Fette Talwiesen zeugen davon, dass es hier einst überall Teiche gab, deren Wasser Schleifkotten und Schmiedehämmer antrieb. Verschlammt, verlandet und sumpfig, vom sich schlängelnden Bachlauf durchfurcht, liegen sie aufgereiht in den Schattenreichen zwischen den Waldkämmen. An diesen kleinen Talwiesen voller Lurche und Lauchgewächse findet man hin und wieder Reste von Gebäuden, meist wirre Konstellationen verfaulter und geborstener Eichenbalken. Dieses sind Ruinen von Wasserrädern und Schmieden vorindustrieller Werkzeugherstellung, die sich inzwischen der Natur nach längst getanem Werk zurück ergeben.

Doch wenn es der Zufall will, passiert es, dass man auch auf mehr oder weniger intakte Fachwerkbauten trifft. Ein solches, meist gedrungenes Bauwerk aus Lehm und Balken ist jedoch in der Regel kein wesentlich erbaulicherer Anblick als die geborstenen Trümmer. Oft vermodern seitliche Anbauten bereits. Denn wenn das Gebilde auch menschliches Leben in sich bergen mag, so ist es doch auch etwas weniger menschliches, dass ihnen innewohnt und sie umfängt. Die meist mit dunklem Stein verschieferte Wetterseite zeigt sich von Flechten und Algen belegt, wie fleckig von einer grünlichen Haut überspannt. Ranken klettern oft bis zum Giebel hinauf, wo sie sich buschartig bauschen um das wenige Sonnenlicht zu erheischen, dessen Stahlen ihren Weg hierher finden. Es mag dem erbarmungslosen Griff des üppigen Efeus gleichgültig sein, ob er mit den zahllosen Jahrzehnten einen Baum oder aber eines dieser Bauwerke niederdrückt. Die Tonschindeln des Daches verschwinden fast unter Moospolstern und am bröckelnden Schornstein versucht sich der schwache Trieb einer jungen Eiche oder eines Holunderbusches eine kärgliche Existenz gekrallt in Ziegelritzen zu erkämpfen.

Fenster und Türen dieser vom Wald überkrochenen Wohnstätten sind meist klein und zum Teil kaum zu erkennen; schwarze Dunkelheiten zwischen verwitterten Fensterkreuzen und tief in die Lehmwand eingelassene, massive Holzbohlen mit Klinken, 

Riegeln und Scharnieren, Türen, die schon deshalb nicht einladen, da sie dem heutigen Menschen in jedem Fall zu klein sein werden, als dass er sich, ohne sich bücken zu müssen, hinein oder heraus begeben könnte. Die Menschen, die hier hausen, müssen von anderer Beschaffenheit sein, sie müssen anders aussehen, sich anders bewegen, wohlmöglich auch anders empfinden und handeln, als man es heute gewohnt ist. Es ist unergründlich, wie ein Leben in grauer Vergangenheit jene prägte, denen Kultur wahrscheinlich ein ebenso abseitiges Fremdwort war wie Elektrizität.

Irgendwann findet man tiefer im Tal, wo der Bach schon brausend ein Hinüberkommen verweigert und das Tal allmählich mehr lichtspendende Breite bietet, eine Brücke oder ein unter dem Asphalt verlegtes Rohr, jedenfalls einen Weg über das Wasser. Und endlich kommen steile Serpentinen, die Kurve um Kurve den Weg aus der Dunkelheit zu hieven scheinen. Schließlich wird der verirrten Besucher wieder bei jetztzeitlichen Gebäuden einer am Südhang gelagerten Wohnsiedlung beschaulicher Einfamilienhäusern entlassen. Dort mag man aufatmen. Zumal man dann an der Straße den Bergkamm herauf zum Eingangstor der Nervenheilanstalt findet, dem weithin bekannten Birkenhof. 

In dieser Klinik kann sich, wer willens dazu ist, bei Bedarf professionell von Hirngespinsten aller Art befreien lassen. 

Befragt man aber ältere Ortsansässige nach dem Wege, wird man ungläubige Blicke ernten, wenn man das Tal beschreibt, aus dem man angeblich soeben herausfand, als spräche die Menschen ungern darüber. Indes kann man erfahren, man sei wohl, „versehentlich“ im Diepmannsbachtal gewesen.


Als es mich in dieses Tal verschlagen hatte, ahnte ich nicht, in welche Tiefen es mich ziehen würde. Es war wohl auch fahrlässig, in einer solchen unwegsamen und von Tälern durchzogenen Landschaft überhaupt unterwegs zu sein ohne sich zuvor über den ordnungsgemäßen Zustand seiner Bremsen zu vergewissern. — Denn dieses Sicherheitsproblem meines ziemlich alten Wagens hätte mich ohne Weiters das Leben kosten können. Eine Erwägung, die mich heute weniger schreckt, als man glauben könnte, denn mit dem Unfalltod wäre mir Anderes erspart geblieben, das zu berichten mich ohnehin nur dem Spott meiner Mitmenschen aussetzt, so dass ich befürchten müsste, selber dauerhafter Insasse des Birkenhofs zu werden, wenn ich nur gewissenhaft wiedergäbe, oder aber ein Leben lang verbissen verschwiege, was ich im Diepmannsbachtal tatsächlich sah.

Doch arbeitet in mir eine solche unheilvolle Kraft. So will ich es wiedergeben; den Spöttern zum Trotz, und auch auf die Gefahr hin, von jenen Kleingeistern ausgegrenzt zu werden, die glauben, solche Geschichten gehörten in das Reich des Aberglaubens, den sie für so deutlich abwegiger halten als die Irrationalität eines "wahren" Glaubens oder ihres (aus anderen, nicht minder fragwürdigen Stoffen) dürftig gezimmerten Weltbildes. 

Ich will es wiedergeben, denn ich befürchte, es wird notwendiger denn je, jene Warnungen aussprechen, so lange die Menschlichkeit mir noch gegeben sein mag. Jene Warnungen, die unseren Großeltern und deren Eltern noch vertraut waren, jene Warnungen vor alten Kräften, die sich von je her des Lichtes unserer hoffnungslos überschätzen Aufklärung bis heute noch in dunkle Winkel und unerreichbare Tiefen und Weiten entziehen. Der nächtliche Himmel allein weist doch unleugbar darauf, dass es im Universum mehr Dunkel als Licht gibt und mehr Unbekanntes als Erkenntnis. Dies gilt in der Ferne wie in irdischen Dunkelungen.


Von einer Sekunde auf die andere schlug das Bremspedal widerstandslos im Fußraum auf und kam nicht zurück. Auch der Griff des Handbremshebels ließ sich nahezu bis in die Vertikale bringen ohne nennenswerte Wirkung zu zeigen. 

Als die Bremsen versagten, beschleunigte der Wagen auf dem schmalen, abschüssigen Asphaltweg und stellte mich vor die Wahl, ihn entweder unter dem Risiko eines Überschlags nach links in die Böschung zu steuern oder ihn direkt in den jähen Abgrund nach rechts zu lenken, um auf diese Weise vielleicht irgendwo zum Stehen zu kommen. Mit zunehmendem Tempo erschien mir beides Wahnsinn. Also stellte ich mich der ungebremsten Fahrt so lange ich nur konnte und raste dann, als ich den Kurvenverlauf verfehlte, halb im Flug über den grasbewachsenen Randstreifen in den tiefer gelegenen Wald, der dort glücklicherweise einen jungen, biegsamen Baumbestand aufwies, der mich bremste. Meine Fahrt ging nur leicht verlangsamt weiter, holperte glücklich zwischen starken Buchen hindurch, meine Lenkversuche erwiesen sich als aussichtslos — und endete mit einem Überschlag in die Bachsenke, die an dieser Stelle jäh in das Gestein geschnitten war. Der Wagen blieb senkrecht zwischen Felsen verkanntet stecken. 





II.

Ich hatte mir den Kopf an der Windschutzscheibe angeschlagen und am Lenkrad die Rippen gequetscht. Bei aufheulendem Motorengeräusch lag ich einige Sekunden benommen über dem Lenkrad, während der Druck meines Körpergewichts ein durchdringendes Dauerhupen bewirkte. Dieser Lärm hielt mich bei Besinnung, bis ich es endlich schaffte, mich wieder zu bewegen

und den Motor zum Stoppen brachte. Später tastete ich mühsam nach dem Türgriff und schälte mich aus dem zusammen- gestauchten Auto. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich rutsche einen lehmigen Hang hinab und taumelte nassen Fußes durch das Bachbett.

Ich weiß nicht, wie lang ich ging. Die Archaik des Ortes und meiner Hilflosigkeit enthoben mich jeglichen Zeitgefüges. Ich erinnere mich, am Ufer eines versumpfte Teiches entlang getrottet zu sein und einen Trampelpfad gefunden zu haben, zwischen dem Ufer und einer brüchigen Felswand, die mich weit überragte und meterhoch über mir vom freiliegendem Wurzelwerk des Waldes gesäumt war. Ich folgte dem Pfad benommen, und er führte mich bald leicht ansteigend in eine Felsniesche. Ich hätte den Weg wohl als Sackgasse erkennen können, doch die deutlich ausgetretene Spur führte mich geradewegs dort hinein. Vage erinnere ich mich, die große Anzahl an Schnecken auf dem Weg bemerkt zu haben. Rasch wurde es dunkler um mich herum. Die Luft wurde feuchter und modrig. Bemooste Flanken verengten sich unregelmäßig, teils gerade noch auf Schulterbreite. Nur wenig Tageslicht fiel herein, doch der Pfad von zertretenen Bruchsteinsplittern wies unmissverständlich auf eine weitere Passierbarkeit hin, selbst als sich die Felsvorsprünge über mir schlossen und ich damit also eine wie auch immer beschaffene Höhle betrat.

Ich zögerte und weiß nicht, was mich dazu bewegte, dem Pfad weiter zu folgen, statt umzukehren. Noch erlaubte das Licht mir ein Wenig Orientierung und der Boden war eben. Noch ging ich weiter. Der Untergrund bestand zunächst noch weiterhin aus kleineren Steinen, wechselte aber nach wenigen Schritten zu einer unebenen Fläche soliden, scheinbar ausgetretenen Felsens mit einer leichten Steigung, auf der sich mein Schatten gerade noch erkennbar abzeichnete. An dieser Stelle wurde ich der stickigen Luft gewahr, die aus der Öffnung vor mir zu sickern schien. Es war nicht allein der kühle Muff von den Felswänden, der hier von Moosen, Flechten und Schimmel zeugte. Etwas weit Strengeres waberte hier aus dem Erdinneren.

Zunächst erwog ich, es sei der Verwesungsgeruch eines wohlmöglich verendeten Tieres, der mir in Schwaden entgegentrat. Doch es roch schärfer als Kadaver, weniger süßlich, weder fäkal noch chemisch doch in seiner Intensität in jedem Fall Ekel erregend. Ich dachte an schmorendes Gummi und säuerlichen Fisch.

Bald darauf verschwand mein Schatten in der Finsternis. Die bemoosten Felswände links und rechts von mir verengten sich zusehends und trafen sich über meinem Kopf in einem nahezu gotisch zu nennenden Winkel. Einen Schritt weiter wurde der Boden wieder abschüssig. Es tropfte von der Decke und der Fels zu meinen Füßen wurde rutschig. Gerade als Dunkelheit und Unwohlsein mich übermannten, als ich mich besann, auf welch unsinnigen Weg ich mich hier einließ, glitt ich auf dem harten, feuchten Grund aus. Ich rutschte schreiend in das dunkle Loch und fiel hart auf den Boden. Es hallte in einem sich offenbar erweiternden Höhlenraum. Ich hatte mir den Ellenbogen schmerzhaft geprellt und lag für einen Moment hilflos in der tropfnassen Düsternis. Mein Schrei muss indes gehört worden sein, denn plötzlich vernahm ich eine Stimme.

"Wat luopt he do rin?"

Es folgten unverständlich gemurmelte Worte, das brummige Gefluche der gleichen Männerstimme. Ich schaute, so gut ich es vermochte, zum Eingang hinauf und konnte gerade noch erheischen, wie ein schwaches Laternenlicht dort erlosch. Danach kam jemand im Dunkeln auf mich zu. Ehe die Gestalt mich mit schleifenden Schritten erreichte, kam jedoch ein anderes Geräusch aus der Gegenrichtung. Es hallte deutlich, wenn auch in einiger Entfernung unsichtbar aus dem finsteren Raum. Der Versuch fällt mir schwer, doch ich möchte dieses Geräusch als ein mehrstimmiges Zischen oder Fauchen beschreiben, als entweichten grölend Laute aus mannigfaltigen Kehlen einem großen Körper. Noch während diese Laute in einem ebenso mehrstimmigem Stöhnen erstarben und widerhallten, erfüllte sich die Luft unerträglich mit dem schon zuvor wahrnehmbaren Gestank. Es ergriff mich ein solches Entsetzen, dass die nächsten Minuten nur unklar in meiner Erinnerung erhalten sind. Ich glaubte daran zu ersticken, als mich eine raue Hand hastig am Kragen und unter der Schulter ergriff und mich unsanft durch den schmalen Felsspalt hinaus in Richtung Tageslicht zog. Mir war als klatschte dabei etwas auf meinen linken Fuß, während die Ferse über den Fels schleifte. Ich sah eine gegerbte Hand und einen ausgefransten Ärmel vor meiner Brust, hörte angestrengtes Grunzen. Dann befand ich mich aber auch schon, mit dem Rücken an eine Steinwand gelehnt, im Wald.

"Wat hätt he hie to donn?!"

Die Kleidung des Mannes, der sich schimpfend über mich beugte, war grob und nahezu zerlumpt. Unter der breiten Krempe eines grünlichen Filzhutes hervor funkelten mich in Erregung zusammengekniffene Augen böse an. Sein Bartwuchs war nicht der eines alten Mannes, gestutzt aber nicht gepflegt. Wie er in seiner gebeugten Haltung gestikulierend auf mich einredete, erschien er mir groß, auf jeden Fall massig. Die Gestalt wirkte wie eine Erscheinung eines vergangenen Jahrhunderts. Er trug eine Art gewachsten Gehrock, der an den Ärmeln und am Saum zottelig aufgeschlissen war. Anstelle eines Gürtels war ein Hanfseil um seine Hüften gebunden. Die Hose mochte einmal von hellem, ungefärbtem Wollstoff gewesen sein. Sie war allerdings derart fleckig, dass eine Färbung oder Muster kaum noch zu erkennen gewesen wäre. An den Knien waren in ein unsauberen Stichen mit dunklem Zwirn großflächige, speckig glänzende Lederflicken aufgesetzt. Seine Stiefel waren schlammverkrustet, halbhoch, mit einem weiten Schaft aus dickem Leder.

Verängstigt von dieser Erscheinung und geschwächt von meinen Blessuren, vom Erlebnis in der Höhle, bat ich ihn flehend um Hilfe, beschrieb die Misslichkeit meiner Lage und versuchte, so gut ich konnte, von meinem Unfall zu berichten. Er sah mich dabei stumpf an, als fiele es ihm schwer, mich einzuschätzen. Dann musterte er mich mit einem schrägen Blick, wurde still und kniff den Mund zusammen.

"Sie sind nicht von hier, was?" sagte er dann in überraschend verständlichem Deutsch. "Kommen Sie, gnädiger Herr. Hier können Sie nicht bleiben."

Erleichtert atmete ich auf. Die vorhergegangenen Ereignisse schienen mir plötzlich wie ein böser Traum, den es abzuschütteln galt. Sein Tonfall vermittelte mir, hilflos wie ich war, dass alles zu einem guten Ende kommen könne. Er reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. 

Unter Schmerzen war ich gerade im Begriff danach zu greifen. 

Plötzlich aber hielt er inne. Es war, als horchte er auf etwas, ein Geräusch, das ich selbst dem Wind, den Bäumen oder einem Tier zugeschrieben hätte. Ihn aber irritierte es auf eine ihm offenbar nicht unbekannte Weise. Er hob den Kopf und sah sich aufgeschreckt mit zusammen gezogenen Schultern um. Sein Blick richtete sich den Weg hinauf, den er mich gerade herunter gezerrt hatte. Es sah aus, als würde er eine ihm bekannte Gefahr gewissenhaft berechnen.

"Kuomm!" sagte er dann zischelnd. "Kuomm ens wech hie!"

Eilig half er mir auf und ich folgte ihm taumelnd.



III.

Ich muss gestehen, dass nahezu alle meine Erlebnisse in diesem Tal wie in einem Nebel der Erinnerung erscheinen. Es ist, als wären die Ereignisse von einem Rauschen überlagert, bestädiges Rauschen von Wind, Wald und Wasser, dass wie Dunst die Wahrnehmung dämpft, und mich seither beständig als flüsterndes Branden begleitet. Dieser Nebel wird mit der Zeit dichter, und ich befürchte, er wird mich bald in Gänze umfangen. Mag man mir glauben oder nicht, wo ich selbst mich nicht für Einzelheiten verbürgen kann. Doch bevor alles verloren ist, muss ich die losen Fäden dieses Erinnerungsnetzes verknüpfen. Warum, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß es nicht.

Ich weiß noch, dass der Weg am Ufer eines trüben Teiches vorbei führte, wo ich das Rauschen zum ersten Mal vernahm. Auch weiß ich, dass wir den Bach an einer geländerlosen Holzbrücke überquerten, und dass das klatschende Prasseln hier lauter wurde. Ich erinnere mich deutlich an das niedrige, halb verfallene Häuschen unterhalb des Mühlteiches und habe das hölzerne Mühlrad noch vor Augen. Es war blockiert und das Wasser klatsche in die oberste Schaufel, zerstob in pulsierenden Schwallen und hielt das Rad und den es umgebenden Bruchsteinschacht tropfnass. Die Wände waren von kinderkopfgroßen Moospolstern umsäumt und Algenstränge hingen in langen Wrasen am Holz herunter, als wolle sich ein grüner Geist mühsam aus dem dunklen Schlund erheben, in den die kalten Wassermassen rannen. 

Das Rauschen war hier ein tosender Lärm aus Tröpfeln, Klatschen, Gluckern und Gurgeln, der in den Ohren dröhnte und jeglichen anderen Klang verschlang. 

Wenn mir auch der Weg kaum in Erinnerung blieb, denn noch immer hielten Ängste und Schmerzen mich in einer Art Schockzustand, so wird der Anblick des Gasthauses mir, wohl nahezu unauslöschlich bleiben, wie es sich über uns beugte, kaum dass wir den Wald verlassen hatten und noch bevor wir die buckelige Straße überquerten. Es lehnte sich vor. Es glotzte auf mich herunter. Es lauerte zuzuschnappen. 

Es war keines der gedrungenen Waldgehöfte, keine von Bäumen überschattete Hütte. Vor uns ragte der Giebel einer hohen, schwarz-weißen Fachwerkwand in die Höhe. Über der Tür war ein angerostetes, emailliertes Schild angebracht, mit der altdeutschen Aufschrift: 


Gafthaus Bross



Für üblich bilden die Winkel der geschwärzten Balken einer Fachwerkkonstruktion eine Art von Ordnung oder bestenfalls einer Symmetrie. Für üblich erkennt man darin vertraute Konstellationen, orientiert sich an den horizontalen, stärkeren Balken, die die Geschosse trennen und sieht geschwungene Linien geschickt in die Wand eingearbeitet und zu rechten und diagonalen Winkeln sinnvoll zusammengesetzt. Für üblich. 

Die Hausfront vor mir schien aber in keinem Winkel recht zu sein. Dies fing damit an, dass ich mich in keiner Weise vor einem symmetrischen Gebilde befand. Ein Dachgiebel war auszumachen, jedoch verschiedene Winkel, die davon auszugehen schienen. Die Dachschindeln waren von vermoostem Ton und wie in hängenden Matten grünlich über die krummen Dachbalken ausgebreitet. Die Hausfront verwirrte in ihrer Balkenkonstellation, wie gesagt, das Empfinden von Rechtwinklichkeit. Anbauten waren kaum vom Hauptgebäude abzugrenzen. Die Fenster hatten ungleiche Höhen und schienen nie in Linie gedacht zu sein. Jeder Raum dahinter mochte jeweils seine eigene Bodenhöhe zu haben, sofern sich die Böden im Inneren überhaupt als waagerecht erweisen würden. Manche Fenster lagen mit der Unterkante auf einem Balken auf, andere waren gleich unterhalb der schwarzen Linien gesetzt. So schielten sie aus der Ecke des Fachwerks mit Fensterbänken wie mit verzogenen Mundwinkeln und spöttisch vorgeschobener Unterlippe. Manche standen schief, geradezu diagonal zu den sie umgebenden schwarzen Balken. Ich vermochte nicht einmal zu erkennen, ob dieses Haus drei- oder viergeschossig war. 

Und irgendwo in der abschüssigen Hausfront befand sich die grüne Tür, deren Eingangsstufen Opfersteinen gleich auf die buckelige Straße ragten. Irgendwo zwischen der höchsten Giebelspitze und einer kleinen Luke, die sich scheinbar noch unterhalb eines Kellers befand, prangte jene zweiflügelige Tür, grün, etwas zu hoch, in der Horizontalen teilbar und wie pockennarbig mit groben,  schmiedeeisernen Nägeln behämmert.

Immerhin ließ die Tür erkennen, dass sie einst rechtwinklig gebaut worden war. Doch das war offenbar bevor der Druck der Jahrhunderte das Gasthaus gebeugt und verzerrt hatten. Über der Tür befand sich ein Fenster, dreieckig und in deutungsvoller Konstellation zum verzogenen Türrahmen mit der Spitze nach unten.

Mein Führer musste mein Zögern hinter sich gespürt haben, denn er drehte sich um und winkte mich her. Als ich noch dastand und den Gasthof Bross zu erfassen versuchte, lief er behände vor, eilte die Stufen herauf, öffnete die offenbar unverschlossene aber schwergängige Tür, schob, als wolle er im Moment nicht gesehen werden, den rechten Flügel rasch nach innen auf, kam geduckt wieder heraus und stellte sich außerhalb des Türamens auf die Steinstufe. Er machte mir seiner rechten Hand eine einladende Geste und sagte "Treten Sie doch ein, gnädiger Herr!“ als gäbe keinen Grund dieser Einladung zu widerstehen.



IV.

Das Innere des Schankraumes war ausladender, als ich es erwartet hätte. Obschon der Raum eher dunkel wirkte, hätte man sich durchaus auch ohne Beleuchtung darin zurecht finden können, selbst in den hinteren Bereichen, wo durch Fenster an der Hinterseite des Hauses noch gedämpftes Tageslicht einfiel. Die schwache Beleuchtung gab einige unbestimmt kuriose Einzelheiten des Raumes preis; wie etwa einen von Fliegen übersäten und umschwärmten Knochenschinken, der bei der Tür zur Küche von der Decke hing, Geweihe und seltsam exotische Masken an den Wänden. Nahe des Eingangs stand ein wuchtiger Tresen, der halb wie eine Schanktheke wirkte. Mit dem Schlüsselbrett dahinter und einer wuchtigen, gusseisernen Registrierkasse darauf, war er aber auch als Hotelrezeption erkennbar. Tatenlos stand ich, nachdem ich hineinkomplimentiert worden war, bei der seitlichen Theke, als mein Begleiter sich an mir vorbei in den Raum schob, dahinter trat, einen Steinkrug und eine braune Flasche von unten hervor holte und mich mit beidem in den schmutzigen Händen zum nahe gelegensten Tisch führte, wo ich auf einer Holzbank Platz nahm. Daraufhin öffnete er den Schnappverschluss der Flasche, schenkte mir unter wirren Entschuldigungsworten einen guten Schluck ein und entfernte sich eilig in jenen Teil des Raumes, der nun in meinem Rücken lag. Irgendwo dort hinten musste es eine Treppe geben, denn ich hörte, wie er Holzstufen hinauf ging, nachdem er seine Stiefel irgendwo hinter mir ausgezogen und abgestellt hatte. Ich hörte seine Schritte über mir. Mehrere Türen wurden geöffnet und geschlossen. Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierkrug und fühlte schon bald, wie die leichte Betäubung des Alkohols meinen schmerzenden Körper beruhigte. In diesem Zustand wurde ich davon überrascht, dass mein Gastgeber plötzlich in gänzlich anderer Erscheinung vor mir stand. Er trug nun ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Sein Haar war zurückgekämmt und er sprach in leicht säuselnden Ton: 

"Ich denke, gnädiger Herr, Sie sollten sich dringend ein Wenig ausruhen. Wir haben Ihnen eines unsere Gastzimmer vorbereitet.“


Nicht im Stande zu widersprechen, nahm ich einen  groben Bartschlüssel von ihm entgegen und folgte ihm eine schmale, gewundene Holztreppe hinauf und einen kurzen, finsteren Flur entlang. Er öffnete eine Tür rechts, schob mich in den zwielichtigen Raum dahinter und … empfahl sich; ohne dabei die Tür zu schließen. Ich wollte ihm nach, doch er war schon auf dem Gang verschwunden, ehe ich die Tür erreichte.

Ich schloss die Tür. Im Licht einer schwachen Glühbirne betrat ich ein Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl. Ich ließ mich auf das Bett fallen, wo ich entkräftet liegen blieb. Kissen und Bettdecke waren frisch bezogen, wenn auch leicht muffig. Nach einem Lichtschalter in Bettnähe tastend stieß ich an einen Gegenstand, der offenbar vertikal auf dem Nachttisch aufgestellt war. Er fiel lautstark zu Boden. Ein harter Schlag und das Poltern von Metall auf Holz, wahrscheinlich im gesamten Haus unüberhörbar. Für einen Moment hing das Geräusch im Raum, wie in peinlicher Stille. Dann aber erklang diese Stimme über den Flur. Sie krächzte monoton mit einem unterschwelligen Beiklang von Wut oder in einen lauernden Befehlston.

"Männe, best du dat?“

Ich rührte mich nicht. Jemand huschte über den Flur, und mein Gastgeber schien etwas an einer anderen Tür zu flüstern. Ich verstand lediglich das Wort „Kundschaft". Danach wurde es still, und ich sank in, mir scheint es, kurzen, unruhigen Schlaf.






V.

Als ich ruckartig erwachte, brauchte ich einen Moment um mich zurecht zu finden. Mein ganzer Körper schmerzte, insbesondere die Rippen und der Schädel, in dem es beständig rauschte. Aber auch die Glieder meldeten, dass sie einiges an Quetschungen und Schürfungen hatten erleiden müssen.

Obwohl noch etwas benommen, erinnerte ich mich bald, wie ich hierher gekommen war, und dass ich von bitterem Bier getrunken hatte. Ich erhob mich vom Bett und trat an das Fenster, wo das Rauschen sich verstärkte. Ich erinnerte mich an das blockierte Mühlrad in unmittelbarer Nähe. Ich befand mich offenbar an der Frontseite des Gasthofes und sah auf die schmale Pflasterstraße hinunter und auf das üppige Grün jenseits. Gerade wollte ich mich abwenden, um mich noch einmal im Raum umzusehen, als ich unten vor dem Haus eine Person wahrnahm. Es war mein Gastgeber, nun wieder in der lumpigen Kleidung und mit dem Filzhut. Links und rechts in den Händen trug er etwas, dass ich nicht gleich erkennen konnte. Zunächst hielt ich es für zwei rötliche Einkaufstaschen, doch dann hörte ich ein Gackern und eine der Taschen machte eine flatternde Bewegung. Er trug zwei Hühner an ihren Füßen. Auf der anderen Straßenseite hielt er kurz inne und schaute sich verstohlen, wie mir schien, um. Als er den Kopf in Richtung meines Fensters drehte, trat ich rasch zurück, um nicht von ihm gesehen zu werden. Er schien kurz über etwas nachzudenken, setzte dann seinen Weg fort und verschwand unter den Bäumen. Er kam zunächst nicht zurück. Ich würde es wohl besser meiden, mich am Fenster sehen zulassen. 

Ich fragte mich, was für ein Gegenstand derart laut polternd herunter gefallen war, dass es das ganze Haus hatte aufhorchen lassen. Vor meinem Bett lag eine Statuette von etwa 30 cm Länge. Ich hob sie auf. Sie lag schwer in der Hand, eine massive Schmiedearbeit von erstaunlicher Kunstfertigkeit. Ich erkannte darin die Darstellung einer schlanken Gestalt in weitem Gewand, wie der sorgfältig gehämmerte Faltenwurf erkennen ließ. 

Das Eisen schien alt und abgegriffenen zu sein. Jedenfalls waren die äußeren Kanten glänzend, während Unebenheiten und dunkle Vertiefungen drauf hinwiesen, dass sie in der Vergangenheit einmal von Rost befreit worden war. Die Figur hatte weder Hände noch Füße. Die Form eines Kopfes war erkennbar, jedoch kein Gesicht, lediglich eine Vertiefung an der Vorderseite. Die schwarze Einbuchtung, wo ein Gesicht hätte sein sollen, war vom in Wellen geschmiedetem Metal umrahmt. Unten, anstelle von Füßen, verschmolz der Faltenwurf in drei sich schlängelnden Strängen mit der runden, angeschmiedeten Fußplatte. Auf der Unterseite war etwas in einer mir unlesbaren Schrift eingraviert oder geätzt. Ich vermutete, dass es sich um Keilschrift handelte. Wie gesagt, wirkte das Ding abgegriffen. Als ich es in der Hand hielt, war es mir unangenehm. Ich fragte mich, welcher Epoche ein solcher Gegenstand entstammen könnte und stellte ihn vorsichtig wieder auf den Nachttisch. 

Ansonsten wirkte das Zimmer heruntergekommen. Die Tapete mit Lilienornamenten wellte sich an manchen Stellen. Bett, Tisch und Stuhl passten soeben in den kleinen Raum. Am Fußende prangte das Fensterkreuz. Es gab keine Waschgelegenheit im Zimmer, weshalb ich mich leise auf den schwach beleuchteten Flur begab. Diffuse Landschaftsbilder hingen an der Wand. Am einen Ende des Ganges mit unübersichtlich vielen Türen war ein Fenster. Am anderen führte eine Treppe sowohl hinunter als auch in ein höheres Stockwerk. Ich hatte nicht gleich bemerkt, dass dieser Flur stufig war. Bereits nach wenigen Schritten in Richtung Treppe stolperte ich mit vernehmbarem Geräusch.

"Männe?! -- Wat is? Warst bei Vattern?"

Es war eine krächzende, weibliche Stimme. Fordernd klang sie über den Flur. Jetzt, als mich lediglich eine Tür von der unbekannten Person trennte, (wenn ich auch nicht gewusst hätte welche) hielt ich unmittelbar den Atem an. Es lag etwas Seltsames im Klang dieser Stimme. Ich vermochte nicht zu sagen, was es war. Nein, es war nicht der Tonfall, mit dem dort gerufen wurde, es war der Klang, scharf und blechern. Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich reagieren sollte, als ich hörte, wie sich unten knarzend die Haustür öffnete. Offenbar hatte mein Gastgeber den Ruf gehört. "Bin da, Muodder. Bin da." antwortete er eilends und schloss die schwere Eingangstür. Ich hörte, wie er die Treppe heraufkam.

Wie aus einem instinkthaften Impuls, drückte ich die Klinke der nächstbesten Tür herunter, die auch glücklicherweise unverschlossen war, und versteckte mich in dem dahinter liegenden Raum. Schritte kamen die Treppe herauf und den Gang entlang. Auf dem Gang hörte ich dann meinen Gastgeber besänftigend sprechen. 

"Bin da, Muodder! Han hem versorcht. Dat is all guot on wahl, Muodder.“ Woraufhin die Stimme der Mutter sich in mir unverständlichen Worten zufrieden gab.


VI.

Von dem folgenden Gespräch konnte ich nur wenig verstehen. Der Tonfall des Sohnes hatte etwas Verstohlenes, einen Hang dazu plötzlich leiser zu werden, wenn auch das Gespräch eine gewisse Alltäglichkeit zu haben schien. Die Frauenstimme war nur hin und wieder vernehmbar. Das allermeiste Gesprochene schien mir deutsch zu sein, insofern man manches Wort des hiesigen Platt einem also veralteten Deutsch zuordnet. Immer wieder aber fielen derart befremdliche Wortklänge, dass sie sich der Verständlichkeit völlig entzogen. Ich würde es nicht wagen, sie irgendeiner Sprache zuzuordnen, gehe aber so weit zu behaupten, dass sie definitiv nicht deutsch waren. Es waren Laute von nahezu unaussprechlichen Konsonantengruppen: „Achktlhu“ … „Ochtwgnagl“… "M'Ngalah" oder „Tklüöftng"

Die hiesige Sprache hatte Laute von unerklärlich ferner Fremdartigkeit.

Ich hatte gehört, wie mein Gastgeber im Gespräch eine Tür geöffnet und sich dann hinein in das Zimmer bewegt hatte. Und ich hatte gehört, wie er die Tür hinter sich schloss.

Als ich mich also damit abfinden musste, dass ich der Unterhaltung nicht mehr länger werde folgen können, nahm ich das Ohr von der Tür und sah mich in den Raum um, in den es mich verschlagen hatte. Es war außerordentlich staubig und schmutzig hier. Spinnweben hingen in den Winkeln und an vollgepackten Regalen. Ein wuchtiger Tisch dominierte das eher große Zimmer, offenbar eine Art Laboratorium. Auf dem Tisch, wie auch in den Regalen waren Bücher und seltsame Arbeitsgeräte, vielleicht alte Messinstrumente, aufgestellt. Manches war unter der Staubschicht kaum zu erkennen, auch wenn es teilweise aussah, als hätte jemand sein Arbeitsmaterial mitten in der Tätigkeit liegen gelassen. Mehrere Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Tisch, manche davon mit Abbildungen und Tabellen. Auch gab es eine Werkbank mit Schraubstock, in dessen Nähe das Werkzeug geordnet bereitlag. Glasgefäße wie Retorten und Kolben standen herum, teils gefüllt mit fragwürdigen Flüssigkeiten, teils auch in Scherben mit klebrigen Flecken unter sich. Im Ganzen betrachtet schien ich mich aber eher in einer alten Bibliothek zu befinden als in einer Werkstatt, eine Bibliothek mit erstaunlich alten Büchern. Die meisten hatten unbeschriftete Lederrücken, zum Teil mit römischen Ziffern nummeriert. Kleine Bücher waren seltener als voluminöse Folianten. 

Neugierig trat ich an den Tisch heran und warf einen Blick auf das große, aufgeschlagene Werk darauf. Wenn auch in Leder eingebunden, so schien es doch keiner modernen Druckerpresse zu entstammen. Die geschwungenen Lettern und die stilisierten Abbildungen sahen eher nach Holzdruck oder Kupferstichen aus, wahrscheinlich nach deutlich älteren Vorlagen. Es handelte sich um ein seitenstarkes Buch namens "Liber Ivonis", verfasst in veraltetem Deutsch, versetzt mit lateinischen Passagen. Der Autor war nicht angegeben, jedoch war als Ursprungstext ein sogenanntes "Buch des Eibon" erwähnt, angeblich vorchristlichen Datums. Trotz des offensichtlichen Alters und der aufwendigen Machart hatte jemand einige Passagen angestrichen und in alter Handschrift kommentiert. Gerade diese Stellen waren zu meiner Beunruhigung von okkultem Inhalt im Charakter alter Beschwöhrungsformeln, wie man sie im fragwürdigen "6. & 7. Buch Mose" oder den Schriften alter Kabalisten finden kann, und auf eine Weise praxisnah, dass es mich unmittelbar schauderte.


"Ebendort sey Hort M'Ngalahs, ebendiesem Gottgeschwürs,

auf daß auch es zur Zeyt des circulus finalis sich windet, also

Eynkunft auf Erden finden kann. Zu Yuggoth, wo in Nithons Hafen Byjakeen, Nachtdörre und Pidgeneonis uns anbinden,

ist derzeyt Stützpunkt seines lästerlichen spiritus animalis, in Arm und Saat."


Mindestens eines der unbekannten Wörter, die ich draußen auf dem Flur gehört hatte, tauchte, so schien es, hier in der alten Schrift auf. Offenbar war das alte Wissen um diese Schriften in diesem Haus bis heute lebendig, wenn ich auch seine Bedeutung nicht abzuschätzen vermochte. In jedem Fall handelte es sich um Überbleibsel einer lange vergangenen Zeit. Meine Neugier war geweckt. Weiter unten hieß es:


"Doch komme er hier wie in fernen Äon, wenn das Leben IHN ruft, ihn ruft in cognitio, worauf er harrt seit 500 Cyklen, als hier erst Land entstand. Wo er dereynst bereytz harrte auf cerebri fertiliti, denen er sich ganz gleich dem Schläfer von R'lyeh offenbart in Räumen zwischen Zeyten, bis er findet alimentae, satt und verdorben genug in sphaera profanis.“

Hier befand sich eine handschriftliche Randnotiz: 

„Die Zyklen müssen ex-act berechnet werden!“


Als ich die Seite umblätterte, entdeckte ich die detailreiche Abbildung einer kugeligen Apparatur. Um eine Mitte, die sich unschwer als Erdball erkennen ließ, waren an zahlreichen Ringen, die sich dank einer komplizierten Mechanik flexibel darum herum bewegen können mussten, kleinere scheibenförmige Körper angebracht. Auf inneren Bahnen waren Sonne und Mond erkennbar. Weitere Gestirne waren weit schwerer zu identifizieren, einige jedoch waren beringt, wie man heute Saturn darzustellen pflegt. Die Außenschicht der Kugel schien transparent zu sein, oder vielleicht nur zur Ergänzung der Abbildung skitziert, konnte allerdings wahrscheinlich ebenso wie die innere Ringe rotieren. Auffällig war eine größere, konvexe Scheibe auf einer äußeren Bahn, die sich meinen astronomischen Kenntnissen entzog, größer als die Sonne und schwarz, befestigt auf einem flexiblen, schrägen Ring. Vom weiteren Text erheischte ich nur einen einzigen Satz, den ich wiedergeben könnte:

"So M'Ngalah wachse um zum Ende

alles Seyn zu überspannen

und selbst der mächtige Azathoth tanzend 

in seiner Hitze sich ergehe!"

Anbei ein Datum, das nicht zu entziffern war, und die Bemerkung:

„SO SEI ES“


In seiner Faszination schien sich mir das mechanische Gebilde auf der Abbildung mit allen seinen Schichten und Körpern in meiner Einbildung kurz in wirren Drehungen zu befinden, als ich Schritte auf dem Flur vernahm. Mein Gastgeber klopfte offenbar an die Tür meines Zimmers schräg gegenüber.

"Eine kleine Mahlzeit wäre im Schanksaal für sie bereitet, gnädiger Herr! -- nehmen Sie sich ruhig die Zeit, die sie benötigen." 

Damit hörte ich, wie seine Schritte sich entfernten und er die Treppe wieder hinabstieg. Rasch blätterte ich die Seite zurück. Um keinen verdächtigen Eindruck zu machen, schlich ich mich auf mein Zimmer. Ich verharrte einen Moment und verließ den Raum, als hätte es den vorherigen Abstecher nie gegeben. Allerdings hatte ich diesmal weit mehr Obacht, nicht zu stolpern, oder gar Gegenstände umzustoßen.


VII.

Unten begrüßte mich Bross. Auf dem Tisch standen ein Korb mit geschnittenem Brot und ein Brett mit Wurst, sowie ein hölzerner Teller und ein Messer. Ich nahm auf der Bank platz.

Mein Gastgeber, jetzt wieder in gepflegterer Kleidung, gab sich besonders höflich und von äußerster Zuvorkommenheit. In der Rolle des Gastwirtes schien er sich wohl zu fühlen, und er füllte sie perfekt. Sein vorbildliches Verhalten konnte allerdings nicht über die Dürftigkeit des Etablissements hinwegtäuschen. Gäste schienen im Gasthaus Bross nicht die Regel zu sein. Die mangelnde Sauberkeit und die Beschränktheit der Küche zeigten deutlich, dass man auf meine Anwesenheit nicht vorbereitet war.

Das Brot war hart, und die Wurst war gräulich. Unter den Blicken meines Gastgebers nahm ich appetitlos zwei Bissen und spülte sie mit dem mir wärmstens empfohlenen Kräutertee hinunter.

Ich spürte, dass Bross eine Unterhaltung mit mir suchte. Er kam heran und redete in wärmenden Plauderton zunächst über Wetter und Witterung der Region, die er versuchte besonders angenehm und bekömmlich darzustellen. Wahrhaftig zeigte er an der üppigen Feuchtigkeit Gefallen. Ein verhangener Himmel schien ihm besonders reizvoll, je mehr die Wolken die Sonne abschirmten. Er schwärmte geradezu von der feuchten Witterung, wenn Nebel die Sicht weich begrenzt, wenn Wald und Himmel verschmelzen und es nichts gäbe, das in Ferne liege. Alles sei eines in diesen Zeiten, wo alles in Ruhe gedeihe, ja unmerklich wuchere, wie um uns aufzunehmen, in eine firmamentlose Welt.

„Ich nehme an, ich werde Sie wohl ein wenig erschreckt haben. Ich meine, mit meinem Aufzug. Ich muss ja wie ein alter Waldschrat gewirkt haben, in Lumpen und mit solch einem Hut. Ich wollte Ihnen bestimmt keine Angst einjagen. Wie Sie sehen, bin ich üblicherweise, ein wenig zivilisierter.“ 

Als wolle er die erste Begegnung lieber nicht mehr ansprechen, erzählte er rasch weiter: „Ich durfte meine Ausbildung im Hotelfach an einigen sehr angesehenen Häusern genießen. Sie müssen wissen, vor langer Zeit, war diese Straße einmal viel befahren, als Abkürzung zur Kohlenstraße im 19. Jahrhundert. Das war natürlich noch vor dem Bau der Autobahn, ja selbst bevor die Bahnlinie von Müngsten nach Ronsdorf pendelte. Und die wurde bald nach dem Krieg eingestellt. Tatsächlich kommen nicht oft Gäste hierher. Wir haben uns aber in aller Bescheidenheit, und dank eines festen Glaubens, damit arrangiert."

Für einen Moment hielt er inne, wie es religiöse Menschen zu tun pflegen, wenn sie auf ihren Glauben zu sprechen kommen.

Etwas fahrig erklärte er dann: “Tatsächlich waren wir auf Besuch aus der Stadt nicht vorbereitet. Wenn es ruhig ist im Haus, pflege ich zuweilen in den Wald zu gehen, — für ein paar naturkundliche Beobachtungen, einsame Pirschgänge eines Amateurs, weiter nichts! — Daher mein ungeschlachter Aufzug. In frisch gewaschenem Sonntagsstaat wäre ich im Wald nichts als ein Fremdkörper. Das Wild würde mich wittern und das Weite suchen. Vaters alten Lumpen aber haftet nichts als Waldgeruch an. Sie sind sozusagen mein Wald-Ornat.“

Dann wurde er ernster. „— Ich nehme an, es ist Ihr Wagen, den ich bachaufwärts verunfallt gefunden habe. Sieht ganz schön mitgenommen aus. Da haben Sie mächtig Glück gehabt. Freue Sie sich, dass Sie wohlauf sind. Es wird nicht ganz einfach werden, das Wrack aus dem Bachbett zu ziehen. Es wird wohl das Beste sein, Sie bereiten sich auf mehrere Nächte bei uns vor. Gerne bieten wir Ihnen ein Zimmer an. — Nein, das ist wirklich kein Problem! Bleiben Sie, so lange es Ihnen beliebt. Wir bieten gerne an, was Küche und Keller hergeben. — Doch zunächst, denke ich, sollten Sie sich noch erholen. Ich habe mir erlaubt, einige Gepäckstücke aus Ihrem Wagen zu bergen. Sie stehen bereits im Foyer und ich werde sie so bald wie möglich auf Ihr Zimmer schaffen. Ich hoffe, es ist alles vorhanden, was sie benötigen?! — Ansonsten stehen wir Ihnen natürlich mit allen unseren Mitteln gerne zur Verfügung. Ich werde die nötigen Einkäufe erledigen, sobald ich dazu komme. Sie scheinen doch etwas mitgenommen zu sein, was ja kein Wunder ist. Seien Sie willkommen und machen Sie sich keine Sorgen, die gute Luft der Wälder hat schon so manches Leiden wundersam gelindert. Sie werden sehen.“

In bemerkeswerter Beiläufigkeit fügte er noch an, bevor er sich anderen Arbeiten widmete: „Leider verfügt der Gasthof derzeitig über kein Telefon, wofür ich vielmals um Entschuldigung bitte. Die Leitung scheint seit dem letzten Sturm defekt zu sein. Ich hätte mich längst darum kümmern müssen. Für dringende Nachrichten müssen wir uns leider derzeitig auf einen Fußmarsch begeben. Aber einmal in der Woche kommt die Post auch hier vorbei.“

Draußen setzte bereits die Dämmerung ein. Und Bross hatte bestimmt recht, das ich nicht in der Verfassung war, meine Abreise zu planen, bestimmt nicht heute. So wenig erbaulich die Perspektive auch war, so schien es doch das einzig Sinnvolle, die Nacht hier zu verbringen.

VIII.


Bross hatte sich inzwischen ein Bier besorgt und kam etwas verhalten und leise auf mich zu:

“Sie werden ja bereits bemerkt haben, dass es noch eine weitere Person hier im Haus gibt. Es handelt sich um meine betagte Mutter, die leider seit geraumer Zeit bettlägerig ist. Ihr Zimmer befindet sich am Ende des Flurs. Ich hoffe, Sie werden sich nicht daran stören, wenn ich mich hin und wieder um sie kümmern muss. Sie ist es nicht gewohnt, dass wir Gäste haben.“

Ich machte beiläufig deutlich, dass es mir nichts ausmachen würde, da ich ohnehin zu Dank verpflichtet sei.

„Das wird aber auch die einzige Störung sein, die zu erwarten wäre, außer vielleicht Mardern auf dem Uoller, — auf dem Dachboden.“ schob er zwinkernd nach. „Wir führen ein ruhiges und bescheidenes Leben hier. Es gibt hier nur Mutter und mich."

Dann fügte er nach einer kleinen Pause wie zur Rechtfertigung

hinzu: "Vater hat schon vor längerer Zeit —, sozusagen das

Zeitliche gesegnet.“ 

Bei diesen Worten, so schien es mir, schmunzelte er in sich hinein. Es war, als läge für ihn dieser altmodischen Formulierung irgendeine besondere Mehrdeutigkeit inne. 

Bevor ich noch darüber nachsinnen konnte, wich diese Anwandlung aber wieder seiner Hoteliersfreundlichkeit:

"Jedenfalls wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Gasthof Bross. Ruhen Sie sich zunächst einmal aus. — Stets zu Diensten."

Mit der entsprechenden Geste empfahl er sich, und machte sich daran, meine Reisetasche und meinen Koffer auf das Zimmer zu bringen. Ich blieb sinnierend sitzen. Die ganze Situation hatte etwas Benebelndes.


. . . 


"Darf ich Ihnen noch einen Abendtrunk anbieten.“

Plötzlich war Bross wieder da. Bevor ich ablehnen konnte, standen zwei Krüge und zwei Flaschen auf dem Tisch. Bross gesellte sich zu mir. Mit dem Tageslicht schwand offenbar auch sein Berufsethos. 

„Bestimmt interessieren sie sich für die hiesige Geschichte …“

Mir fehlte die Kraft, mich der Situation zu entziehen. Also sprach er weiter. 

"Die Familie Bross hat schon vor Jahrhunderten hier gesiedelt. Die Grafen von Berg scherten sich nicht darum. Mehrere Täler in der Nähe waren im Familienbesitz. Richtung Lempe gibt es noch eine ganze Reihe von Teichen, wo wir uns schon früh die Wasserkraft zu Nutze gemacht haben. Sie sind heute noch als die Bross-Teiche bekannt. Aber davon erzählen nur noch Sagen …“

Er senkte seine Stimme und rückte geheimnistuerisch näher.

„Ich hoffe, Sie sind nicht abergläubisch. — Die bergische Sagenwelt ist reichhaltig, müssen Sie wissen. — Aber dann hätten Sie bestimmt auch schon so manches gehört, -- von allerlei Schreckgestalten, die hier umgehen sollen. Nicht?! -- Ich kann Ihnen so einiges erzählen…"

Mit geweiteten Augen sah er mich an, nickte wissend und lehnte sich dabei zurück. Dann holte er tief Luft, goss uns beiden Bier ein, und wir tranken, während er eifrig weitersprach.

„Die Sagen gehen auseinander, ob es nun der alte Bross war, oder sein Sohn, wer der beiden ein sozusagen ‚folgenreiches‘ Verhältnis zu einer Magd gehabt hatte. Einig ist sich die Überlieferung von um 1600 jedoch, dass ein enthaupteter Körper in einem der Bross-Teiche schwamm, der erst identifiziert wurde, nachdem man auch den Kopf der Magd fand, in einem hohlen Baum. — Damit hätte die Sache zu Ende sein können. Doch die Geschichten gingen weiter. Man ist sich nämlich einig, dass es eine kopflose Gestalt war, die auch später noch in dieser Gegend nächtliche Wanderer heimsuchte. Der Kopflose, heißt es, bespringt Reisende von hinten, klammert sich auf den Rücken seines Opfers, schlägt und würgt dieses und lässt erst ab, wenn die äußerste Grenze des brossschen Anwesens erreicht sei. Keiner der Heimgesuchten hat die Gegend je wieder aufgesucht, und es bleibt unberichtet, wie viele fremde Wanderer auf dieser Route niemals das Ziel ihrer Wanderschaft erreichten …“

Er bemerkte offenbar, dass mich solcherlei lokalen Geschichten, wie sie weltweit erzählt werden, nicht sonderlich beeindruckten.

„Das sind aber, wie gesagt, nur Sagen, und nur sehr abergläubische Menschen würden Schauergeschichten über kopflose Gestallten ernst nehmen. Ich hoffe nicht, dass Sie sich in Ihrem Weltbild von solchen Irrlichtern leiten lassen.“

Nun eröffnete sich eine andre Seite an ihm. Seine Stimme bekam die Eifrigkeit und das Feuer eines Freikirchlers, diesen unangenehmen nahetretenden Moment der Missionierung. Seine Augen leuchteten vor Hoffnung, mich zu bekehren.

„Mein Vater hat mich einen anderen, stärkeren Glauben gelehrt. Er war ein frommer Mann. Als ich klein war, war er immer in seinen Studien vertieft. Ich verstand nicht alles, was er in seinem Arbeitszimmer trieb, aber er hatte seinen Weg zum Glauben gefunden. Er betete viel, und er brachte mir, bevor er von uns ging, den Gottesdienst bei, die wichtigen Rituale, die notwendigen Zeremonien um Huldigung und Opfergabe. Ich bin dankbar diesen unerschütterlichen Halt in meinem bescheidenen Leben gefunden zu haben.“

Kurz murmelte er etwas Unverständliches, in zerhackter Sprache wie ein Gebet herunter, war dann aber gleich wieder bei mir.

„Allerdings gibt es auch Sagen, deren Inhalt erhellender ist. Vater kannte die Geschichten. So verschmelzen gerade hier im Bergischen die beiden weltweit verbreiteten Legenden vom ‚Ewigen Jäger‘ bzw. vom ‚Ewigen Juden‘. Das sind Geschichte um einen Spötter, der bei seinem Tun die heilige Sonntagsruhe missachtete und nach einem unheiligen Schwur auf ewig wandeln und handeln müsse. Hier bei uns heißt es allerdings, dass es sich um den ‚Mann im Mond‘ handele, der sonntäglich Holz gestohlen habe, und deshalb auf den Mond verbannt wurde.  — Jenes Holz, so dürfen wir sicher sein, ist eher sinnbildlich zu verstehen. Hat nicht auch Prometeus das Feuer gestohlen und wurde dafür bestraft? — Und der Mond war vor Jahrhunderten schlichtweg der einzige Himmelskörper, auf dem es möglich erschien dort draußen in irgendeiner Weise Fuß zu fassen. Vater wusste das!“

Ich bemerkte, wie sich Bross immer mehr ereiferte. Seine Stimme überschlug sich. Seine Hände gestikulierten. Seine Augen funkelten. In mir schien er einen Zuhörer gefunden zu haben, auf den er schon lange gewartet hatte.

„Seit der Verbannung zieht der Mondmann zur Nachtzeit in mondhellen Nächten einher, im Versuch wieder zurück zur Erde zu gelangen, heißt es. Es ist natürlich albern zu meinen, es gäbe einen Mondbewohner. Aber glauben sie mir: Tiefe Wahrheit liegt dieser Geschichte zu Grunde! — Vater wusste das, er brauchte nur eins und eins zusammen zu zählen. Den ‚Mondmann‘ muss man nur erwischen, dann hat man das ‚Feuer’. Dann können Gott und die Engel vom Himmel kommen.“

Er atmete tief, sah zur Zimmerdecke und murmelte unvermittelt vor sich hin.

„Vatter un Muodder han heek enn guoden Gott angebätt. He hätt de Beetbuok un ette hätt de Gewault.“


IX.

„Sie müssen wissen, es waren schwere Zeiten damals. Von den Bahnlinien und dem Wohlstand der Bandwirker wurden wir hier unten im Tal vergessen. Der Boden ist hier nur schwer zu bewirtschaften und das Holz war anderenorts leichter geschlagen. Andere Anwohner gingen nach Lempe. Es wurde still im Diepmannsbachtal, aber wir blieben. — Und Vater hatte noch die 

Bücher vom alten Bross und allerlei Gerätschaften. Er las, experimentierte, beschwor und betete. Ich bekam so einiges mit, aber die wichtigen Sachen verstand ich damals nicht.

An einem Abend schaute er lange zum Himmel. Dann verabschiedete er sich von Mutter und ging los. — Sie kamen! —Ich hätte sie nicht sehen sollen. Vater hatte es immer streng verboten, ihm zu folgen, wenn er nachts rausging. Aber in dieser verregneten, stürmischen Nacht hatte ich mich herausgeschlichen, um zu sehen, was er dort trieb, unten auf der Talwiese. Er hatte ein großes Buch unter dem Arm. Er stand dort im Regen und las laut daraus vor. Er rief laut zum Himmel, seine Worte aber verstand ich nicht. Und schließlich kamen sie herunter ‚vom Mond‘, die Engel. Und ich habe sie gesehen: Geflügelte Wesen kamen vom Himmel herab. Sie glauben mir nicht, was?! — Haben sie keinen Angst. Es sind nur uralte Geschichten. Das gibt es doch alles gar nicht.“ Er kicherte und hielt dabei seine Hand vor den Mund. „Aber ICH habe sie gesehen. Sie kamen vom Himmel. Nach und nach kamen sie aus den Wolken und landeten um ihn herum.

Von meinem Versteck aus sah ich, wie Vater mit ihnen redete, umringt von fünf oder sechs von diesen Dingern. Die schwarzen Schwingen eingefaltet kauerten sie dort, die Engel, so wahrhaftig wie die sich im Wind biegenden Bäume, wie die Blitze und der Donner. Er stand in ihrer Mitte, im strömenden Regen in seiner Kutte, auf dem Kopf seinen großen Filzhut. Ich erinnere mich noch gut an das seltsame Sirren ihrer summenden Stimmen im Rauschen der Nacht, als sie ihn immer enger umringten. Dann bin ich weggelaufen.“

Obwohl ich mich bemühte, ihn zu verbergen, erahnte er meinen Zweifel. Er rückte näher an mich heran, sah mir tief in die Augen und senkte seine Stimme.

„Nie wieder habe ich sie gesehen, aber ich weiß, sie waren hier, hier überall, auch hier im Haus. Mutter haben sie mitgenommen. Ich habe ihre Stimmen gehört! — Sie glauben mir nicht, was? — Halten mich bestimmt für einen Spinner. Einen der irgendwelche Stimmen hört… “

Ich räumte ein, es gäbe „Dinge, …“

 „Ja, es gibt ‚Dinge’, mächtige Dinge.“ 

Nun war etwas in ihm wie angefacht.

 „— Wenn Vater von ihnen sprach, nannte er sie Fischer. Menschenfischer waren sie; ‚die Fischer von Draußen’ — 

Und sie sind mächtig. Mutter nahmen sie immer wieder mit. Oh, sie taten Gutes an uns! Sie versprachen Wohlstand. Ich kann versichern: sie hielten ihr versprechen! Ich konnte mein Lehrgeld immer bezahlen. Aber Mutter, die nahmen sie mit. Was haben sie mit ihr gemacht?“

Dabei fasste er mich am Unterarm, drückte ihn und zitterte beängstigend. Ich konnte die roten Äderchen in seinen hervortretenden Augen sehen. Er schluckte, drehte den Kopf dass es knackte, lächelte und predigte weiter:

"Stellen Sie sich vor, ein Gott ist leibhaftig auf die Erde gekommen. Er ist hier. Man kann ihn sehen und hören, riechen und sogar schmecken. Seine Stimme berührt, wenn er spricht bis ins Innerste. Sein Anblick gebietet Ehrfurcht, so dass, wer ihn sieht, auf die Knie sinkt. Er kennt Deinen Namen. Er will, dass Du zu ihm kommst. Du sollst zu ihm gehören. Seine Gänze soll Dich aufnehmen. Denn er ist ALLES seit Anbeginn, und die Zeit wird kommen, dass er wieder ALLES vereint. Nichts gibt es, dass nicht einst zu ihm gehören wird, wie alles ihm einst gehörte, bevor Menschenauge ihn je erblickte. Er wird das All sein und das Immer, denn seine Zeit ist nicht wie Tag und Nacht, sie ist während in Ewigkeit. Und doch ist er gerade jetzt hier um sich zu sammeln, um uns zu sammeln. Er will, dass auch DU dazu gehörst. Nichts was er ist, wardt je wieder einsam. Dereinst wie in Ewigkeit ist alles M'ngalah!"

Inzwischen empfand ich deutliches Unbehagen gegenüber meinem Gastgeber. Er hatte meinen Kragen gegriffen und starrte mir in die Augen. Ich roch seinen säuerlichen Bieratem und riss mich los. Ich erklärte entschieden, dass ich mich nun zurückziehen werde. Dass ich seinen Glauben respektiere, jedoch nicht gewillt sei zu konvertieren. 

Sein Ausdruck wurde zurückhaltender, dann nahezu devot, worin ich aber jetzt auch eine gewisse Verschlagenheit zu lauern sehen glaubte. Ich ließ ihn dort sitzen und ging die Treppe hinauf aufs Zimmer.




X.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Zu sehr hatte mich mein Gastgeber angegangen. Es war inzwischen Nacht geworden. Offenbar waren Wolken aufgezogen. Draußen im Wald herrschte Finsternis. Im Licht meiner schwachen Birne ging ich auf und ab und dachte nach.

Ganz offensichtlich hatte ich es bei Bross mit einem gestörten Geist zu tun. Und eben so unzweifelhaft war sein Interesse, mich in seinem Glauben absorbieren zu müssen. Sicherlich war jeder Fluchtgedanke sinnvoll. Doch wie sollte diese vonstattengehen? 

Und wohin? Um draußen im Dunkeln ziellos durch den Wald zu tarpern? In jedem Fall müsste ich unten an Bross vorbei, den ich noch im Schankraum vermutete. Ich saß in der Falle.

Nur wach bleiben! befahl ich mir, und strengte mein Hirn an. Ich konnte den fiebrigen Eifer in seinem Blick nicht aus meinem Kopf bekommen. Sollte er sich als Wahnsinniger herausstellen, und wohlmöglich dort unten schon planen, wie er mich überwältigen könne, dann täte ich wohl besser daran, mich vorzubereiten. Ich verschloss und verriegelte meine Zimmertür und sah mich nach irgendeinem Gegenstand um, der zur Waffe taugen könnte.

Mein Blick fiel auf den Nachttisch und die eiserne Statuette, die ich dort wieder aufgestellt hatte. Ich nahm sie und stellte fest, dass sie umgedreht recht gut in der Hand lag. Die Sockelkante sollte beim Schlag schwere und schmerzhafte Wunden verursachen. Ich steckte mir die Statuette testweise in den Gürtel. Ja. Es war möglich, das Ding, so unangenehm es sich auch anfühlte, unauffällig mit sich zu tragen. Ich hatte meine Waffe gefunden und harrte der Dinge, die kommen mochten.

Im ganzen Haus war es still. Ich löschte das Licht, um keinen verräterischen Lichtschein durch die Türritzen zu werfen, und setzte mich auf die Bettkante. Ich habe nicht hören können, ob Bross die Schankstube verlassen hatte. Auf der Treppe hatte ich ihn jedenfalls nicht gehört. Er musste noch irgendwo unten sein. Oder hatte er unten einen Schlafplatz, wo er sich inzwischen in aller Ruhe zu Bett gelegt hatte? In der Ferne rauschte der Bach. Dann, ohne erkennbares Geräusch im Haus, wurde es draußen plötzlich noch dunkler. Das Licht in der Schankstube war gelöscht worden. Das ganze Tal versank in Finsternis.

Angespannt saß ich ich auf der Bettkante. Die Zeit rieselte unbehaglich wie schwarzer Sand. In dieser Leere packte mich irgendwann den Gedanken an die Mutter: In irgendeinem Zimmer am Ende des Ganges gab es noch eine bettlägerige alte Frau, das wusste ich. Sicherlich befand sie sich nicht in akuter Gefahr. Wenn aber für mich in diesem Haus eine Gefahr bestand, und hiervon ging ich aus, bedroht von einem gefährlichen Irren, wäre es da nicht unverantwortlich, an Flucht zu denken und eine hilflose Greisin unbeachtet zurückzulassen? — Statt nur herumzusitzen, beschloss ich, zumindest mehr über die Bettlägerige herauszufinden.


Ich wusste nicht einmal wie viele Türen der Gang hatte. Ich bewegte mich mit Stundenzeigerlangsamkeit durch die Dunkelheit und gelangte schließlich zur Tür am Gangende. Ich horchte. Hinter der Tür herrschte, wie auch im Rest des Gasthauses, Stille. Irgendwo rief ein Nachtvogel. Ich wagte ein zaghaftes Klopfen und einen geflüsterten Gruß. Zunächst bekam ich keine Reaktion. Als ich aber die Hand an die Klinke legte, rührte sich doch etwas.

„Menne, best du dat?“ hörte ich die bekannte Stimme leise fragen. Ich flüsterte meinen Namen und fragte, ob ich eintreten dürfte.

„Na, kuomm Jong. Kuomm ens rin!“

Ich versuchte, die Tür möglichst leise und dabei doch so weit zu öffnen, dass ich größtmögliche Einsicht in den Raum gewinnen konnte. Geradeaus vor mir schimmerte Nachtlicht durch die Ritzen einer Tür nach draußen, wie ich erkannte. Es war eine verwitterte Brettertür, die sich nach außen öffnen ließ. Zögerlich trat ich ein. Links war eine Wand und ein niedriges Möbelstück. Rechts war es dunkler, doch ich erkannte die Falten eines matt durchsichtigen Vorhangs, wie aus dünnem Latex. Dahinter brannte ein schwaches Licht. Eine Kerze, wie ich vermutete.

„Warst bei Vattern?"

Die Stimme der alten Frau klang leiser aber nicht flüsternd, einfach leiser. Noch einmal stellte ich mich flüsternd vor und erklärte vorsichtig, ich würde mir Sorgen um ihren Sohn machen.

„MÄNNE?? - Best du dat?!“ krächzte sie plötzlich laut in dem mir vom Tage bekannten Befehlston. Sie schmetterte es dermaßen heraus, dass das Kerzenlicht jenseits des Vorhangs flackerte. Gerade wollte ich ansetzen, sie zu beruhigen, als mich der Schlag von hinten am Kopf traf, und mich augenblicklich bewusstlos zu Boden sinken ließ. 






XI.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, steckte mein Oberkörper in einem Sack und ich wurde auf der Schulter einen Weg hinauf getragen. Mein Träger schnaubte zunehmend heftig unter der Belastung und warf mich schließlich unsanft ab. Ich landete auf Waldboden.

„Wat hätt he hie to don? - Verdummech!“

Er verschnaufte einen Moment. Dann befreite er mich, zu meiner Überraschung, aus dem Kartoffelsack. 

"Wou kütt he dann wech?“ fluchte er dabei vor sich hin. „Konvertieren!? — Kümmt dahergeluopen. Di’et ässe wies. — 

Nix wies he!!“

Als ich wieder sehen konnte, stand er wieder in seiner verlumpten Kleidung samt Hut über mir und redete auf mich ein. Ich saß mit gebundenen Händen am Boden und kam erst langsam zu mir. Der Wald um uns lag in Morgennebel.

„Ah!“ sagte er plötzlich, als er meinen etwas klareren Blick wahrnahm. „Der gnädige Herr ist wieder beisammen.“ 

Es war nicht ganz selbstverständlich in ihm wieder den Gastwirt zu erkennen, der jetzt aus ihm sprach. „Dann soll er mal gut zuhören, der gnädige Herr! — Hüöres dat Runen? He rount beharrsam un he bestemmt allemasch!“

Fast schelmisch fixierte er mich.

„Die Hunde und Hühner finden von hier aus den Weg von selber. Das Getier kennt seine Bestimmung.“ sagte er säuselnd. „Sie hören M’Ngalahs Ruf und sie folgen. Hören Sie es auch? — Vielleicht wissen Sie es nicht mehr, aber Sie selbst sind seinem Ruf bereits gefolgt.“ Sein Tonfall hatte den Klang einer zweifelhaften Einladung. „Spüren Sie es auch, gnädiger Herr? Diese unwiderstehliche Neugier, die uns ruft. —  Ja, auch ich kenne seine Liebe, und wie ich sie kenne! Glauben Sie mir, ich höre den Ruf täglich. Manchmal sehne ich mich danach, ihm endlich folgen zu können. Endlich EINES zu werden mit IHM…“ 

Sehnsuchtsvoll warf er einen Blick den Weg hinauf, wo die Öffnung der Höhle nur wenige Schritte entfernt klaffte. Ich fragte mich, was dort zu finden sei. Auch ich sehnte mich jetzt danach, jenem Wesen, dem ich dort begegnet war, erneut gegenüberzustehen.

„Ich sehe, gnädiger Herr, diesmal hören sie den Ruf lauter. Haben Sie Geduld. Er wird auch Sie empfangen!“ 

Dann schien er plötzlich etwas in der Luft zu erschnüffeln.

„Enn fiese Rüöck! - De süöte Rüöck vun de fuul Brot. De Brot, et bruckt de Kost. Most de fuul Brot köstigen, hörste?!“

Auch ich nahm den mir bekannten Gestank wahr. Bross schien kurz abgeschweift, doch wandte sich entzückt wieder an mich: 

„Sie haben ein solches Glück, gnädiger Herr. Oh, wie gern würde auch ich mich diesem Ruf fügen, mich jetzt und hier mit M’Ngalah vereinigen. Doch es ist noch nicht so weit. Noch muss er wachsen. — Vater hat ihn gepflanzt und gehegt. M’Ngalah wuchs. Er wuchs aus dem kopflosen Leib, den Vater besorgt hatte. Da hat er ihn hineingepflanzt. — Als ich alt genug war, ging Vater schließlich ganz zu ihm und überließ mir die Ehre M’Ngalah zu hüten. Er überließ mir das Ornat, seine Kleidung. Die Kleidung, die er trug, als er M’Ngalah in den Berg pflanzte. Ich weiß noch, wie stolz ich war. M’Ngalah braucht mich, noch! Doch die Zeit wird ihm Raum geben, mehr Raum. Dann wird M’Ngalah ALLES sein und ALLES wird M’Ngalah sein, bis er am Ende selbst die Zeiten übernimmt. Vater M’galah!“

Ich wagte etwas zu fragen: „Und die … Mutter?“

Seine Mine verfinsterte sich. „DAT WARS ETTE NIT!!! — De Muodder hätt allwei Ping!“ brauste er plötzlich auf. „Schmerzen!!!“ 

An diesem Punkt kam er ins Hadern. „Sie kann es nicht gewesen sein,“ verteidigte er sich verzweifelt, und ich wusste nicht wofür, „Sie liegt in ihrem Zimmer. Sie haben sie doch selbst gehört! —- Dat hätt Vattern nit donn. Dat hätt he nit…“

Sie war damals fort gewesen, erzählte er dann etwas gefasster, die „Moudder“. — Die schwarzen Engel hatten sie mitgenommen, zum fernen Yuggoth, von wo man auch M’Ngalah hergebracht hatte. Und seit sie wieder da war, hatte sie Schmerzen. Nur die Fischer konnten diese Schmerzen lindern, die Fischer vom Draußen. Sie kamen früher oft, inzwischen nur selten. Aber machmal hört er sie noch im Zimmer seiner Mutter flüstern. Sie wollen sicher gehen, dass M’Ngalah wächst, hier wie überall!

Er wuchert hinter der Sternenleere und brütet im Hafen Nitrons, im Nebel bei Aldebaran und im fernen Ghooric-Reich, überall wächst er!

„Doch dies hier ist sein Stützpunkt auf Erden.“ schloss er weihevoll seine Rede und löste meine Fesseln.

Ich sah hinauf zum Höhleneingang. Ich spürte den Ruf. Es zehrte dermaßen an mir, dass ich beinahe aufgesprungen wäre, um M’Ngalah augenblicklich aufzusuchen. Bross reichte mir die Hand und half mir auf die Beine. 

„Gehen wir!“



XII.

Die zerlumpte Gestalt schritt feierlich voran. Um uns herum zwitscherten die Vögel. Frösche und Kröten hüpften den Weg hinauf und man musste Acht geben, nicht auf Schnecken auszurutschen. Ein Schwarm Drosseln rasselte schnatternd durch den Wald. Ihr Tschilpen klang wie gehässiges Kichern.

„Dat sin de Krammetsvögel.“ erklärte Bross. "Die könn' uns nicht mehr verraten.“ lachte er zunächst in sich hinein, dann aber lauter wie aus bester Laune heraus. Ich denke, es war dieses doppelte Gekicher, das mich kurz zur Vernunft brachte. Aber wer kann sagen, worin genau meine Rettung bestand? — Schnatternde Vogellaute und das unmotivierte Gelächter eines Wahnsinnigen auf dem Weg zur ewigen Verschmelzung mit einem kosmischen Gottgeschwür. 

Bross trottete beseelt vor mir her, und ich folgte. Ich zuckte fast zusammen, als ich den Gegenstand bemerkte, der in meinem Gürtel steckte. Ich tastete danach: 30 cm solides Stahl, scharfkantig und schwer. Ich trug tatsächlich die Statuette bei mir, die ich noch in der Nacht zur Behelfswaffe bestimmt hatte. Solide Schmiedearbeit. — Es war wie ein Erwachen. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ohne mir etwas anmerken zu lassen zog ich die Stahlfigur langsam im Gehen aus dem Gürtel. Ebenso unauffällig beschleunigte ich, die Waffe fest in der Hand, meinen Schritt und näherte mich meinem Widersacher von hinten. Als ich auf Armlänge heran war, rief ich seinen Namen. Er blieb stehen, drehte sich um, — und ich schlug zu. Sein Hut flog den Weg hinauf, und Bross ging augenblicklich zu Boden.

Da lag er. Er lag vor dem Höhleneingang, dessen Öffnung mir nun dünstend entgegen klaffte. Ich stand da. Ich stand da und starrte in die dunkle Leere. Wie traumwandlerisch stieg ich über seinen reglosen Körper und schritt langsam auf den Eingang zu. Ich hörte M’Ngalahs Ruf und roch seinen Odem.

Plötzlich jedoch fasste eine Hand nach meinem Bein. Bross riss mich von den Füßen, und Sekunden später rangelten wir beide auf dem Boden. Wir rollten hin und her, in einander verkeilt und verschlungen. Doch immer wieder bekam ich meinen rechten Arm frei und versetzte ihm Schläge auf Rücken und Hinterkopf. Wieder und wieder schlug ich auf ihn ein. Es schien mir eine Ewigkeit und eine nicht enden wollende Anzahl von Schlägen zu sein, bis sich Bross endlich nicht mehr erwehrte. Er sackte in sich zusammen und zuckte nicht einmal mehr. Erschöpft blieb ich unter ihm liegen.

Schon befürchtete ich keine Luft mehr zu bekommen, wenn ich mich nicht bald aus dieser Lage befreien würde, als ich die unerwartet eingekehrte Ruhe bemerkte:

Die Vögel zwitscherten nach wie vor. Auch das Wasserrauschen klang noch immer aus der Ferne. Auf andere Art war Ruhe eingekehrt: im Inneren. Die Stimme M’Ngalahs; ich hörte sie nicht mehr. Diese nagende Neugier, dieser unbestimmte Sog, M’Ngalahs Ruf war wie verstummt. Es war, als hätte man ein zuvor blendendes Licht endlich abgeschirmt, als sei eine Hintergrundmusik ausgeblendet worden. Dieses unerklärliche Bedürfnis, die haltlose Liebe zu M’Ngalah, sie war wie verschwunden.


Mit der auf diese Weise wiedererlangten Denkfähigkeit, bekam ich eine Idee. Ich kam auf den Gedanken, dass das so genannte „Ornat“, auf das Bross so ungewöhnlich viel Wert gelegt hatte, die lumpige Kleidung seines Vaters, auf die er so stolz war, etwas mit dieser Stille zu tun haben könnte. Konnte es nicht sein, dass dem gewachsten Gehrock, der geflickten Hose und den Stiefeln, der ganzen Kleidung, die mit dem leblosen Körper, der schwer über mir lag, so etwas wie eine Schutzfunktion innewohnte? Vielleicht war es dieses Ornat, das Bross selbst bisher davor bewahrt hatte, sich dem Ruf M’Ngalahs zu ergeben. 

Ich wandt mich also vorsichtig unter dem Körper hervor und versuchte dabei, ihm den Mantel so gut es ging abzustreifen. Es gelang mir, dass ich bald darauf seine ganze Kleidung übernommen hatte und der unbekleidete Körper mit der offenen Kopfwunde neben mir auf dem Waldboden lag. Ich zog noch seine Stiefel an und nahm den Hut, der unweit liegen geblieben war. So verkleidet näherte ich mich vorsichtig dem Höhleneingang. Ich wollte ES sehen.

An einer Wurzel vor dem Eingang hing die Handlaterne, und in den Manteltaschen fand ich Streichhölzer, um sie zu entzünden. So ausgerüstet betrat ich den sich verjüngenden Felseingang. Es war still im Inneren. Widerlicher Dunst umwob mich. Es tropfte von den Wänden. Bald erreichte ich das rutschige Gefälle, dass mir beim letzen Mal fast zum Verhängnis geworden wäre. Im schwachen Licht der Petroleumlaterne sah ich mich um. Ich befand mich am oberen Absatz einer abgewetzten Felsenkante, die weiter unten in einem ovalen Raum endete. Die Steinwände waren bis unter die Decke glatt, fast als wäre der Hohlraum in den Berg gefressen oder geätzt. Die Laterne erhellte mir, einmal an die Dukelheit gewöhnt, fast den ganzen Raum. Nur ganz links herrschte Dunkelheit, wo ein breiter abgerundeter Stollen wesentlich tiefer in den Berg zu führen schien. Die Felsenhöhle war aber alles andere als leer. Ich hatte mich wie gesagt an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Ich konnte gut sehen. Doch was ich sah war unbeschreiblich:


Ich sah Flüssigkeit und Dunst verwoben in fleischrotem Perlmutfarbenrausch. Es waberte wie flüssig. Doch es schien auch fest, in anderem Rhythmus. Ein lebendiger Brei, ein pumpendes Geschwür aalte sich unbeschreiblich in der Senke. Seine Oberfläche war amorph und in dauernder Wandlung. Es gab feuchte, es gab hautige Flächen, es gab Wülste und eitrige Beulen. An manchen Stellen züngelte es an die Wand, aus anderen schien es auf mich aufmerksam zu sein. Nicht nur, dass es in schleimigen Strängen aus dem Dunst in meine Richtung zu tasten schien, es hatte zuweilen ein erkennbares Gesicht. Mindestens ein Auge starrte mich trügerisch an. Tentakelformen bildeten Nasenflügel und Hautfalten in der fleischigen Geschwulst. Mir war, als würde eine Falte im Fleischbrei sich zu einem verkniffenen Mund formen. M’Ngalah grunzte. 

Und M’Ngalah rief mich beim Namen und sprach:


HAST’ET?


HAST’ET? DENN GÖWW’ET!


GÖFF MER DAT! 


DAT IS MING!


KUOMM!


GÖFF DAT LEVEN!


KUOMM!


KUOMM BEI M’NGALAH!!





XIII.

Ich könnte nicht behaupten, dass seine Stimme besonders laut gewesen wäre. Sie hallte aber tief im Höhlengewölbe. Wie ein Grunzen aus Gedärmen und doch einlullend wie Orgelklänge.

Vielleicht hatte ich mich zu nah herangewagt. Für ein paar Sekunden erschien mir die Auflösung geradezu erstrebenswert. Ich trat an die Kante und war kurz davor, mich fallen zu lassen, während Arme und Zungen aus der Geschwürmasse heraustraten, um mich zu empfangen. Sie würden mich auffangen, aufnehmen, auflösen, wenn ich mich nur ein wenig weiter in den Abgrund neigen würde.

Unvermittelt aber zogen sie sich wieder zurück. Sie hatten ein anderes Objekt gefunden. M’Ngalahs Masse dehnte sich plötzlich in Richtung Höhleneingang.


KUOMM!


KUOMM MIN JONG!


Am Eingang, wo das Tageslicht noch schwach eintrat, war eine schwankende Silhouette erschienen. Mit schleppenden Schritten kam sie heran, und ich erkannte Bross in dem Umriss. Ich hatte ihn für tot gehalten. Blut lief ihm über den Oberkörper und sein Kopf hing schief.

„Vattern!“ rief er. „Vattern! Bin da, Vattern!“  

Wobei seine Stimme mehr Todeshauch war als Ruf. Seine Augen waren starr. Er sank auf die Knie und seine Arme hoben sich sehnend dem Monstrum entgegen.

Die unförmige Masse ließ von mir ab und setzte sich züngelnd in Bewegung. Das wuchernde Ding lebte. Es lebte, aber es hätte nicht sein dürfen. Ein wimmelnder, roher Mollusk aus Fleisch und Eiter, eine sich wälzende Schnecke mit unzähligen Augen, Fühlern, Zungen, mit pumpenden, saugenden Mündern, klaffenden Schlünden, Dämpfe gebärend und voller Gier in dem einen, großen Auge. 

Das Gottgeschür, das nun von mir abgelassen hatte, schob sich amöbenartig auf den schwankenden, blutigen Körper zu, der tot hätte sein sollen. Eine Wand von aderigen Därmen und Muskeln mit tastenden Gliedern und Tentakeln baute sich immer höher auf und wuchs aus seiner Behausung. Bross kniete mit ausgebreiteten Armen da, als sich direkt vor ihm aus der schwelenden, nässenden Oberfläche eine menschliche Form abzeichnete. Überlebensgroß wuchs aus der Front, wenn auch untrennbar mit dem großen, ganzen Wahnsinnsgebilde verwachsen, der aufgedunsene Oberkörper eines bärtigen, alten Mannes und blickte lüstern auf Bross hinab. 


ICH BIN M’NGALAH, DEIN GOTT!

KOMM ZU MIR UND WERDE EINS!


„Vattern… Bin ding Blag!“ stöhnte Bross, als die riesigen Arme ihn umfingen, und ein tiefer Wohllaut erfüllte das Höhlengewölbe. Kleinere Auswüchse betastete seinen von Blut und vom Waldboden verschmierten Leib, liebkosten den offenen Hinterkopf, umschlossen ihn, leckten an ihm, schienen seine Haut zu durchdringen. Bald war er kaum mehr zu erkennen, eingeschlossen, aufgenommen in dieser letzten allumfassenden Umarmung. Ich sah noch wie eine gewaltige Zunge sich um seinen Hals wandt, ihn scheinbar niederdrückte. Bross war nicht mehr erfassbar, verschmolzen in der Umarmung. Dann ebnete sich die wuchernde Masse und auch das Gesicht war verschwunden.

Ich floh. Schreiend drängte ich mich an dem Gottgetüm vorbei. Ich schrie und schlug um mich. Ich stolperte und taumelte, und alles um mich herum war mir nur noch blankes Entsetzen. Ein gummiartiger Arm setzte mir nach, erwischte mich und umschlang mein rechtes Handgelenk. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte mich loszureißen. Die Laterne fiel zu Boden und herauslaufendes Öl entflammte. In diesem Moment muss M’Ngalah von mir abgelassen haben. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Wald und schluchzte.

Irgendwann hatte ich mich wieder gefangen. Zur Sicherheit robbte noch einige Schritte weiter, lehnte mich erschöpft an einen Baum und dachte nach. Schließlich fasste ich einen Entschluss.












XIV.

Ich stand auf und ging den Pfad hinunter, bis zu dem kleinen Teich. Ich hielt mich am Ufer den Bachlauf hinauf, in der vagen Hoffnung, meinen Wagen zu finden. Der Weg war weiter als ich es gedacht hatte, doch schließlich fand ich jene felsige Stelle, in die mein Auto gestürzt war. Es hing noch genau so über dem Bach verkeilt, mit geöffneter Fahrertür. Der Kofferraum stand ebenfalls offen. Ich erinnerte mich, dass Bross mein Gepäck zum Gasthof gebracht hatte. Mit ein wenig Glück würde ich hier finden, was ich suchte. Ich erkletterte das Heck und schaute auf den durcheinander geworfenen Inhalt des Kofferraumes. Ich löste die Abdeckung des Kofferraumbodens und fand zwischen Reserverad und Warndreieck, worauf ich gehofft hatte: den Benzinkanister.

Wenn es auch etwas altmodisch erschien und vielleicht unnötig Stauraum in Beschlag nahm, es hatte sich bei meinem alten Wagen als ratsam erwiesen, stets einen Benzinkanister hinten im Auto zu haben. Ich schüttelte das rote Plastikgefäß und stellte erleichtert fest, dass es noch randvoll war. Diesen machtvollen Gegenstand in der Hand machte ich mich auf den Rückweg. Ich ahnte, dass es kein Leichtes werden würde, dieses zerstörerische Werk zu vollbringen. 

Als ich den Weg vom Teich hinauf zur Höhle einschlug, war der Strom jeglichen Getieres in ebendiese Richtung kaum mehr zu leugnen: Kröten und Mäuse wanderten den Hang hinauf. Auch sah ich eine Kreuzotter sich schlängeln. Singvögel folgten diesem Sog von Baum zu Baum, immer wieder inne haltend, wie in der Hoffnung, sich diesen Flug ersparen zu können. Spatzen tschilpten wild durcheinander. Drosseln schnatterten rasselnd, die Krammetsvögel in Aufregung. Kaninchen huschten über den Pfad. Selbst Rehe vergaßen ihre Scheu, bemerkten mich nicht und schritten wie gebannt bergan. Das ganze Waldleben schien in Bewegung. Es kroch, flog, tarperte, wandt sich und strömte willenlos der Auflösung, der Einswerdung entgegen. M'Ngalah hatte seinen Geist gestärkt und wollte mehr. Mehr Leben.

Mein Plan war, so viel Benzin wie möglich in der Höhle zu verschütten, dann mit dem Rest eine Feuerspur zu legen, die ich von draußen entzünden wollte, in der Hoffnung aus einer geschützten Position heraus dem Ungetüm möglichst viel Schaden zu verursachen. Also stakste ich mit dem Strom aus kriechendem Getier, aus Schnecken, Insekten, Lurchen, Nagetieren und Singvögeln ins Dunkel. Die Laterne lag noch am Boden, wo ich sie hatte fallen lassen. 

M’Ngalah füllte die Senke wie ein unheilvoll brodelndes Gebräu. Er beachtete mich kaum, als ich den Kanister öffnete. Das plätschernde Rinnsal aus Benzin floss zu ihm hinunter. Es vermischte sich nicht mit der zuckenden Brühe, sondern umfloss ihn und bildete ölige Lachen an seiner Oberfläche. Rückwärts, den Brennstoff verschüttend, darauf bedacht, eine zuverlässige Feuerbrücke zu bilden, verließ ich vorsichtig die Höhle.  

Hinter dem ersten sicheren Felsvorsprung stellte ich den Kanister ab und entzündete mein Ende dieser flüssigen Lunte. In Sekundenschnelle wanderte die Flamme den Weg hinauf und in den Eingang. Bald mussten im Inneren die Flammen wüten. Ich sah schwarzen Rauch aus dem Loch aufsteigen, doch sonst geschah zunächst nichts.

Ich dachte allmählich, es würde weiter nichts passieren. Ich wagte mich hervor und befürchtete, dass profanes Feuer einem gottgleichen Geschwür, das aus den Weiten des Alls hier hergebracht worden war, wohlmöglich nichts anhaben könne. Ich stellte mir vor, dass der fossile Brennstoff ebenso gut auch wirkungslos sein könne, dem Monstrum im schlimmsten Falle gar noch Nahrung hätte bieten können, und NICHTS Irdisches sein Wachstum je aufhalten könne, — als ich plötzlich den Luftstrom bemerkte. 

Von einer Sekunde auf die andere wehte ein Wind und schob mich fast in Richtung Höhleneingang. Als würde ein Gott seinen Kosmos inhalieren. Dann grollte es aus dem Erdinneren. 

Es grollte, und es schrie wie aus einer Hölle, wie aus tausend Kehlen, wie ein brüllender Berg.

Der Boden vibrierte. Dann wechselte der Luftstrom unversehens die Richtung. Eine ohrenbetäubende Explosion drückte mich wieder zurück, warf mich um. Die Felswände bröckelten. Und nun quoll statt des Rauches eine dichte rötliche Wolke brennend aus der Öffnung. Ein Fleischfetzen gebärender Sturm flog auf mich zu, und ich konnte mich gerade eben noch mit einem Sprung in Deckung bringen, ehe er über mich hinweg rollte. 

Das Beben, der Blutregen, das Feuerzüngeln, das Erdgebrüll, all das hielt an, als wolle es nie aufgeben. Ich weiß nicht, ob es sich um Sekunden oder Minuten handelte, es schien endlos. Doch schließlich erstarb es und machte einer unheilschwangeren Stille Platz. Ich richtete mich auf, erblickte den Höhleneingang; und dann sah ich ES.


Es hing in den rußigen Schwaden, die noch träge aus der Höhlenöffnung sickerten. Kopfüber kam es in fremdartig ruckelnden Bewegungen an der Höhlendecke herausgekrochen. Es hatte dünne, insektenartige Beine und war doch größer als eine Dogge. Und es war schnell. Es huschte aus dem dampfenden Loch, verharrte immer wieder kurz wie zur Orientierung. Ich wusste nicht recht einen Kopf oder gar ein Gesicht auszumachen, aber plötzlich war ich mir sicher, dass es mich gefunden hatte. Und es kam auf mich zu, Stück für Stück, in zuckenden Schüben. Direkt vor mir blieb es stehen, verharrte und spannte seine Glieder wie zum Sprung. Ich wusste, es schaut mich an, wenn ich auch nicht wusste wie. Hätte das Ding nur ein Gesicht gehabt, wo ein Gesicht hätte sein sollte.



XV.


Es gibt Momente, in denen wir uns für geistesgegenwärtig halten. Wir tun das Richtige, mit absoluter Bestimmtheit, so schnell wie es die bedrohliche Situation erfordert. Wir halten es für Geistesgegenwart, doch in uns wirkt nichts als Überlebenswillen und Instinkt. In diesem Sinne agierte ich.

Noch bevor die Ausgeburt von Fleisch und Feuer mich angreifen konnte, nahm ich den Kanister und entleerte ihn vollständig über dem vielbeinigen Schrecken.

Ebenso rasch hatte ich die Streichhölzer zur Hand und legte dieses Ding, das nicht sein durfte, in Brand. Es zappelte, quiekte wie ein gequälter Säugling, war rasch vollständig in Flammen, schrie wie ein Sack voller ertrinkender Katzen, erstarb und verbrannte. Nichts blieb davon übrig als dampfender Waldboden. M’Ngalah war besiegt.

—-


Wie konnte ich anders, als die nun eingetretene Stille für trügerisch zu halten? Irgendwo in der Ferne sang eine Amsel, doch selbst dieser Klang war mir ein Hohn. Mir fehlte der Glaube daran, die Endlosigkeit M’Ngalahs je einschränken zu können. — Und doch war die Ruhe wahrhaftig. 

Um mir Sicherheit zu verschaffen, nahm ich die Laterne und wagte ich mich ein letztes Mal in den jetzt halb verschütteten Höhleneingang. 

Was ich im Höhleninneren zuerst wahrnahm, war eine deutliche Verbesserung der Luft, die Abwesenheit genau jenes Gestanks, der den Ort zuvor so sehr verpestete. Zwar roch es noch nach verbranntem Fleisch. Doch dieser Geruch hatte eine fast beruhigende Vertrautheit im Vergleich zum miasmischen Foetor der noch kurz zuvor hier geherrscht hatte. Er war verschwunden, dieser bedrückend stickige Dunst von Kautschuk und Fäulnis, dieser Gestank, der nicht von dieser Welt war. Er war verflogen, und ich wollte gar nicht darüber nachdenken wohin. 

Ich sah mich also um, um mich zu vergewissern, was von dem Schrecken im Diepmannsbachtal noch zu finden wäre. —

So gut wie nichts fand ich. Lediglich ein öliger Schimmer an den Felswänden wies noch darauf hin, dass sich hier etwas Ungewöhnliches zugetragen hätte. Ansonsten war der Raum leer. Aber ich musste mit meiner Laterne auch ins Dunkelste. 

Ich betrat die Senke, wo ER gebrütet und gegärt hatte. Er war verschwunden. Aber: ER konnte nicht ganz weg sein. Es blieb das vage Gefühl von unmenschlicher, unirdischer, ungöttlicher Bedrohung. Und tatsächlich fand ich noch etwas, das mir deutlich zeigte, dass die ganze Geschichte kein Hirngespinst gewesen war. Seine letzten Hinterlassenschaften. Es war weiter hinten, wo ER in den Dunkelungen gelauert hatte. 

Ich dachte bei dem Anblick mehr an ein zusammengestürztes Holzgerüst als an ein Korallenbauwerk, und doch trifft auch diese Beschreibung nicht ganz zu. Ich fand dort Knochen und Asche, alles was M’Ngalah hinterlassen hatte, wie als hätte man in einem mittelalterlichen Beinhaus das Unverwesliche grotesk arrangiert. Doch nicht zu geordneten Strukturen, sondern zu irrwitzigen Formen zusammengefügt, verwachsen, verbacken, verschweißt, zu einem knöchernen Bauwerk des Wahnsinns. Die meisten Knochen waren von Kleintieren, Mäusen oder höchstens Füchsen. Ich konnte in der Knochenmasse aber auch die Reste größerer Säugetiere, Wirbel und vereinzelt sogar Schädel, auch menschliche, ausmachen. Einem davon, fiel mir auf, fehlte die Schädelplatte. Er glotzte mich aus leeren Augenhöhlen fragend an.

Als ich ihn aber anfassen wollte, musste ich feststellen, dass das Feuer auch hier seine reinigende Wirkung getan hatte. Denn kaum hatte meine Fingerkuppe die Oberfläche auch nur leicht berührt, verlor das Knochending jegliche Stabilität, und das ganze filigrane Gebilde fiel in sich zusammen. Innerhalb von Sekunden blieb nichts als Asche und Staub davon übrig. Es war, als hätte es das Gottgeschwür nie gegeben.

XVI.

Bevor ich das Diepmannsbachtal verließ, wollte ich mich noch um die alte, bettlägerige Frau im Gasthof kümmern, die ich, —-gleichgültig in welchem Maße sie zurechnungsfähig, pflegebedürftig oder bösartig sein mochte, nicht einfach zurücklassen durfte. Also folgte ich ein letztes Mal jenem Pfad, wo das Rauschen wie Nebel im Hirn wabert, wo aus Wassergemurmel Visionen gerinnen und Geister strömen, die seit Jahrhunderten das nahe Gebäude und seine Bewohner beschlichen und besetzt haben mögen. Ich trat aus dem Wald und sah sie zum letzten Mal, jene bedrohliche Winkelkonstellation jenseits der buckligen Straße, jenes verwachsene Konstrukt einer zeitenthobenen Ungeometrie, das widerlich dreist herabschielende Gasthaus Bross.

Ein schwacher Alkoholdunst, den ich vorher nicht bemerkt hatte, hing im Schankraum. Dieser schien sich auf der Treppe noch zu verstärken. Sofort als ich die Treppe herauf war, fiel mir die geöffnete Zimmertür am Gangende auf, und das Tageslicht, das den Raum dahinter erhellte. Ich bemerkte, dass die Brettertür nach draußen offen stand. Auf der Türschwelle sah ich, sie war gewaltsam geöffnet worden, unzweifelhaft von außen. Der raumteilende Vorhang war beiseite gezogen. Ich konnte nun sehen, was sich dahinter befand.

Da war kein Krankenbett. Überhaupt war dies war kein Raum, in dem sich ein Mensch langfristig aufgehalten hätte; eher ein Lagerraum. Der Latexvorhang war, wie gesagt, beiseite geschoben worden, allerdings so grob und unachtsam, dass er halb zerrissen herunter hing. Hinter dem zerrissenen Vorhang befanden sich Regale. Regale in denen sich zuvor Gegenstände befunden hatten, wie ich anhand der Staubränder erkannte, die nun offenbar entfernt worden waren. Die Regalwand teilte sich in Fächer auf, in denen größere Behälter Platz gefunden hätten, mindestens in der Größe von Hutschachteln. Jetzt aber waren die Regalböden leer. Was sich zuvor in diesen Regalfächern befunden hatte, konnte ich lediglich anhand eines Gegenstandes erahnen, der zerbrochen am Boden lag. Es handelte sich um einen Glaszylinder, um den herum sich eine Pfütze gebildet hatte. Der Geruch von medizinischem Alkohol war hier am stärksten. Erschrocken erkannte ich die matschige, graue Masse zwischen Scherben: Ein menschliches Gehirn. Zwölf oder fünfzehn solcher Glaszylinder hätten, in diesem Regalen Platz gefunden. Sie waren nun offenbar weggeschafft worden. 

Ich schaute mir den zerbrochenen Zylinder genauer an. Das Hirn war nicht, wie man es bei naturkundlichen Ausstellungsstücken erwarten würde, beim Aufschlag auf den Boden mit der Flüssigkeit heraus geschwappt. Es schien mit dem Sockel verbunden zu sein, der wie eine futuristische, technische Apparatur anmutete. Schlitze an der Frontseite wiesen auf eine Art Lautsprecher hin. Andere Stellen schienen sensorische Funktionen zu haben und es gab verschiedenerlei Leuchtdioden, Kondesatoren und Widerstände, wie im Innenleben eines alten Radios. Mittels dieser Technik war hier offenbar versucht worden, ein Gehirn, und wahrscheinlich auch weitere Exemplare, durch Kabel und Schläuche derart zu erhalten, dass ihm über Elektrizität beständige Aktivität und Austausch ermöglicht wurden.

Eines wunderte mich … — Der Raum war vom Tageslicht hell erleuchtet. Er war größer, als ich es in der Nacht vermutet hätte. Mit einer mir selbst nicht einleuchtenden Ruhe sah ich mich um. Die Kerze? — Wo war die Kerze, die ich in der Nacht hatte flackern sehen?

Schließlich kam ich darauf: Leuchtdioden können akustische Signale in optische umwandeln. Genau dazu waren sie also an dem Gehirnsockel angebracht. Das rhythmischen Aufflackern, das ich für einen Kerzenschein hielt, als die alte Frau zu mir gesprochen hatte, es hatte synchron mit dem Klang der Stimme geflackert, …denn es war nie etwas anderes als flimmernde Elektronik gewesen! 

— Ich kann nicht einmal mutmaßen, wessen Gehirne sich noch im Regal befunden haben könnten. Nur dieses eine war geblieben. Es war unbrauchbar. Wahrscheinlich blieb es deshalb liegen, als die schwarzen Engel ausflogen, die „Fischer von Draußen“. Vielleicht war es ihnen nicht wichtig genug. 

An der Oberkante des Sockels befand sich eine längere Inschrift aus Schriftzeichen, die ich nicht zu entziffern vermochte. Unter dem Sockel allerdings klebte noch ein vergilbtes, handbeschriftetes Etikett, dass meine unglaubwürdige Vermutung bestätigte:



Bross, Margarete 

Y-Y5534 / 43B

Syst.:  Sonne, P 3




Ich verließ den Ort. Ich verließ das Tal. Das „Liber Ivonis“ nahm ich mit. Einerseits durfte es nicht in die falschen Hände geraten. Andererseits könnte es mir noch nützlich sein. Ich lief die ganze Nacht hindurch und fand mich am Morgen vor einem Krankenhaustor wieder. Es war der Birkenhof, wie ich erfuhr. Ich schien gerettet. In den nächsten Tagen wurde das Wrack meines Wagens geborgen und ich fürs erste verarztet. Als ich halbwegs wieder hergestellt war, ließ ich mich mit dürftig versorgten Wunden und gegen den Willen der Ärzte, aus der Klinik entlassen.


Gewisslich werde ich nicht zum Arzt gehen, fühle ich doch die Kraft in mir wachsen. Die Wunde am Arm hat nicht aufgehört zu nässen. Die gallertartige Oberfläche scheint Insekten anzuziehen. Befriedigt stelle ich fest, dass die Fliegen, jeder einzelne Brummer, die sich darauf niederlassen und zu ihrem Verhängnis dort kleben bleiben, mich stärken. Sie werden absorbiert. Immer mehr sehne ich mich danach, Mäuse, Frösche oder kleinere Vögel herankommen zu lassen. 

M’Ngalah ist hungrig. Inzwischen ist die Wucherung nur schwer durch Kleidung zu verbergen. Fest und feucht pulsieren Ellenbogen und Unterarm. Zuweilen schlägt der Arm reflexartig in Richtungen, die ein menschliches Knochengerüst niemals zulassen würde. Immer öfter, gerade beim Anblick von Menschen, giert es in mir.


Ich werde mich zurückziehen. Am Ufer der Wupper, an den unwegsamen Felshängen, wo die riesige Stahlbrücke das Tal überspannt, soll es im Wald versteckte Höhlen geben. Dort wird M'Ngalah die Ruhe finden, die er braucht, um wieder wachsen zu können. Dort wird es NAHRUNG geben!


De Brot, et bruckt de Kost …






AM  ENG




… nit dat Eng vam Li’ed.