Frank DukOwski

Mein Bild
wurde in Wuppertal geboren, arbeitete am Staatstheater, in der Nervenklinik, in engen Kellern, im Baum und im Internet, lebt in Berlin und an anderen Orten und ... glaubt an höhere Mächte. Dieser Blog soll dazu dienen, Geschichten, Gedichte, Fotos und Filmexperimente zu veröffentlichen, kurz: Dinge, die (wenn nicht in Lesungen) bislang kein passendes Podium hatten.

Dienstag, 17. Juli 2012

Ewiges Leben

Ewiges Leben
von Frank Dukowski

Wie lange noch? Wird es je ein Ende geben? Ich sitze vor den Spielfiguren und denke nach. Der Läufer läuft, seine Muskelfetzten hinter sich. Der Reiter hockt auf seinem hautlosen Klepper. Immer verstörendere Abscheulichkeiten werden unserem Panoptikum stetig hinzugefügt. Und ich, ich denke.
Von Hagens ist kein Künstler. Wer sein Werke als Kunst einschätzt, irrt. Ein Künstler haucht Materialien Seele ein. Von Hagens tut das Gegenteil. Niemand schaut ihm unter seinen Hut. 
Ich weiß nicht, warum ich auf die Anzeige in den Heidelberger Nachrichten geantwortet habe. Etwas sagte mir, dass das hier nicht die Bauernfängerei der Zeugen Jehovas ist, und nicht das Larifari einer östlich angehauchten Esotheriksekte. Etwas war anders:
„Ewiges Leben“ 
Kein weiteres Wort, nur eine Telefonnummer. Ich ging zum Telefon und wählte. 
„Liebchen.“ meldete sich am anderen Ende eine leicht quäkige Männerstimme.
„Guten Tag. Ich rufe an wegen der Zeitungsanzeige.“ sagte ich.
„Interessieren sie sich für ewiges Leben?"
Zunächst stellte er mir Fragen: nach meinem Alter, meiner Größe, ob ich Raucher sei, ob ich einen Lebenspartner hätte, wie stark meine familiäre Anbindung sei. Manche der Fragen waren einfach mit 'ja' oder 'nein' zu beantworten („Sind sie Organspender?“-"Haben sie Angst vor Leichen?“), andere waren so kompliziert, dass ich sie nicht beantworten konnte: „Wie denken sie über die Nahtod-Erfahrung Joseph Beuys und den Stellenwert des Künstlers als Schamane einer entseelten Gesellschaft?“
Irgendwann dürfte auch ich Fragen stellen: „Wie darf ich mir das ‚ewige Leben‘ eigentlich vorstellen?“
„Es ist nicht einfach," wich mein Gesprächspartner aus,  "das am Telefon zu verdeutlichen. Am besten kommen sie morgen früh bei uns vorbei. Plastination ist ein kleines Wunder.“

An jenem Sonntagmorgen verließ ich also das Haus, um mich bei übelsten Novemberwetter an der endlosen Backsteinmauer entlang zu kämpfen, die die Straße am Güterbahnhof von den Schienen trennt. Das Wetter kroch in die Knochen. Der Regen schlug mir wagerecht entgegen und verfing sich in feuchten Wirbeln an der Mauer. Die Hosenbeine klebten mir nass an den Waden und von den Haaren tropfte es mir in den Nacken, als ich unter der angegebenen Adresse bei einem Lagergebäude ankam. Drei Geschosse hoben sich weit über die niedrigen Eternitdächer der anderen Hallen. Die roten Backsteine des fensterlosen, seelenlosen Klotzes ließen das Ding aussehen, als sei es selbst ein riesiger, auf die Seite gelegte Ziegelstein.
Eine Stahltreppe führte auf die LKW-Rampe unter einem schmalen Vordach. Ich bestieg die Rampe und lief von der Nasskälte getrieben, zügig die endlose Reihe der geriffelten Alutore entlang. Während ich mich gegen den Wind stämmte und den Backsteinklotz abging fluchte ich innerlich zum x-ten mal darüber, nicht einfach im Bett geblieben zu sein. Am anderen Ende des Gebäudes fand ich eine Stahltür und ein Klingelschild:             

Institut für Plastination und Gefäßerhaltung
Dr. Liebchen

Kaum hatte ich den Knopf unter dem mit Kugelschreiber gekritzelten Schriftzug betätigt, ertönte ein lautes Knarren, Schnarren und metallisches Knacken, ein Höllenlärm, der mich vor Schreck beinahe von den Beinen riss. Nass von Regen und Schweiß starrte ich auf den sich träge weitenden Spalt. Wie unwillig aus tiefem Schlaf erwachend öffnete das Lagerhaus das rechteste seiner Lider. Grauer Boden war drinnen zu sehen, Neonlicht. Schwarze Schuhe kamen zum Vorschein, eine dunkle Hose, ein Arztkittel, ein kariertes Hemd. Dann stoppte das Tor. Das Rattern machte einem Sirren und Brummen Platz, ein dissonantes Rauschen oder elektrisches Grundwabern. Die Person innen bückte sich. Ich sah eine Hutkrempe, ein Stethoskop, hörte die mir bekannte krächzige Stimme unverständlich drinnen hallen, und ein Arm winkte mir, ich solle unter dem halb geöffneten Tor durchkriechen. Ich bückte mich und folgte dem Wink ins Neonlicht.
„Herr... ?“
„Schmidt.“ sagte ich, indem ich mich wieder aufrichtete. "Wir haben telefoniert.“
„Ja, richtig. Herr Schmidt“
Vor mir stand eine seltsam zusammengewürfelt Gestalt zwischen Cowboy, Arzt und verrücktem Wissenschaftler und lächelte mich kränklich an. Am auffälligsten war sein Hut. Mir fiel ein: Es gab da diesen Künstler. Er war seit einigen Jahren tot, der mit der Fettecke. - Ach ja, Joseph Beuys! Der hatte auch immer einen Hut auf. Das Gesicht hatte ebenfalls Ähnlichkeit, die Wangen nicht ganz so eingefallen, wie bei dem umstrittenen Künstler. Der Mund war breiter, froschartig.
„Willkommen, Herr..."
"Schmidt."
"Ich freue mich sie begrüßen zu können. Kommen sie!" 
Bei diesen Worten betätigte er einen Schalter und das Tor setzte sich in entgegengesetzte Richtung in Gang. Der letzte Rest natürlichen Lichtes wurde vom kalten Neonbrennen abgelöst, während das infernalische Metalgeratter durch den Gang hallte.
"FOLGEN SIE MIR." brüllte mein Gastgeber. "DER KAFFEE IST FERTIG..."
Das Rattern erstarb. Das Tor war geschlossen und betont ruhig sprach er weiter:
"... und dann sprechen wir über 'ewiges Leben'."
Beunruhigend mit welcher Ironie er das sagte. Wie schmunzelnd er 'ewiges Leben‘ betonte. Der Begriff schien ihn zu amüsieren - auf eine Art, die ihm ein Lächeln über das Gesicht huschen ließ, während sie mir den Hals zuschnürte.
Nach seiner kurzen Ansprache hatte sich Liebchen fast fluchtartig davongemacht, doch nicht ohne mich nochmals wie in beschäftigter Eile hinter sich her zu winken. Ich folgte. Mit ein paar Blicken nur konnte ich erhaschen, was sich in der Eingangshalle befand: Der Raum  war entlang den Wänden und bis in die Ecken vollgestellt mit den weißen vibrierenden Körpern von Kühlschränken, Kühltruhen und Gefrierkombinationen der verschiedensten Bauart. Uralte rundliche Exemplare verbreiteten wahrscheinlich das Summen und Brummen, das so bedrückend im Raum schwebte. Für eine Sekunde spielte meine Phantasie verrückt und ich malte mir Leichenteile darin aus.
„Hier entlang, bitte!“ - Liebchen bog rechts in eine weiße Stahltür, die zwischen den Kühlkombinationen kaum auffiel, ab. Wir betraten ein fensterloses Büro. Es gab hier einen großen Schreibtisch mit Computer und Telefon. In der Ecke stand eine Ledergarnitur. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine Liege wie aus dem Behandlungsraum eines Arztes. Darüber an der Wand leuchtete wie als Karikatur eines Fensters eine weiße Hinterlichtfläche, wie man sie zu Demonstration von Röntgenbildern benutzt.
„Nehmen sie Platz.“ - Er deutete auf das Sofa, und rückte sich den Sessel zurecht. Auf dem kleinen Tisch zwischen uns war ein Schachspiel aufgebaut. Liebchen sah meinen Blick auf das Brett und lächelte.
„Unsere menschliche Existenz ist endlich." begann er seinen Vortrag. "Der religiöse Glaube an ein Leben nach dem Tod hat an Kraft verloren. Die Versuche die Seele zu beweisen sind misslungen. Nur im flüchtigen Gedächtnis anderer weiter zu leben, ist dem Menschen aber zu wenig. Was also tun?! "
 Ich hatte keine Ahnung.
„Steine sind, wenn man so will, unsterblich. - Sie lachen?! -"
Ich lachte nicht.
"Sie möchten erwidern, das Steine überhaupt nicht leben. Das mag sein, aber sind sie deshalb seelenlos? - Haben sie schon einmal vor einer Statue eines italienischen Meisters gestanden und waren beeindruckt? - Im Stein sehen wir den materiellen Weg zur Ewigkeit, im Kunstwert gleichzeitig den immateriellen, unmessbaren, die Seele - wenn man so will. Können sie mir folgen?“
Nein, ich konnte nicht folgen. Der Mann mit Hut im Sessel gegenüber hatte die Hände beim Sprechen fest und streng ineinander gefaltet wie zum Gebet. Ich sah, wie der Druck der eigenen Hände, die Durchblutung beeinträchtigte. Was wollten diese Hände tatsächlich tun, von dem sie sich gegenseitig verkrampft abhielten? Es war warm hier, schwül, stickig. Mir wurde schwindelig. Oder lag es an diesem Geruch, diesen medizinischen Dämpfen, die in der Luft hingen? Es roch nach Kunststoff und Verwesung, nach Formalin, Azeton und Gammelfleisch.
„Herr Schmidt?!“
„Ja, ja.“ - Ich nickte heftig, wie aus Sekundenschlaf erwacht. 
„Es gibt Substanzen, die ähnlich dauerhaft sind wie Gestein. Ich spreche von modernen Kunststoffen. Haben sie schon einmal etwas von Plastination gehört?“
Ich zuckte mit den Schultern und etwas in dem Blick unterhalb der Hutkante triumphierte. Von Hagens senkte den Kopf, um es zu verbergen.
„Plastination ist mein Patent, meine Erfindung. Ich habe die Plastination zum Mittelpunkt meines Lebens erkoren...“
Er sprach viel an diesem Morgen. Er bot mir Kaffee an, und sprach von Azeton, Silikon, Plexiglas und von der Faszination des menschlichen Körpers. Ich verstand nicht viel. Mir war flau. Schließlich standen wir auf und er führte mich in einen Raum mit grauen Schubladenschränken, wie man sie zur Akteneinlagerung benutzt. Liebchen hob eine Schachtel von halber Schuhkartongröße aus einer Schublade, und ging damit zu einem kleinen Arbeitstisch. Was für ein seltsames Etwas war das? Vorsichtig hob er den handgroßen Körper aus der Verpackung.
„Raten sie mal, was das hier ist."
Es war physischer Schmerz, den ich empfand, als ich jene Kreatur in seinen Händen sah. Vielleicht war es ein Wiederhall der Schmerzen, die dieses Tier empfunden hat, als man ihm die Haut abzog, vielleicht nur meine Phantasie, die mir die Magengrube durchwühlte, in der Brust stach und die Glieder wie in Abwehr zucken ließ. Die Nacktheit des enthäuteten Körpers war entstellend. Das Fleisch-Knochen-Ding sah aus, als hätte man vollgeblutete Taschentücher an Zahnstochern aufgespannt. Was mochte es sein? Ich erkannte, dass es einmal ein Nagetier gewesen sein musste. Scharfe Vorderzähne waren in der Erstarrung des aufgerichteten Kopfes aggressiv dem Betrachter entgegen gerichtet.
"Eine Ratte?" fragte ich um Fassung ringend.
"Nah dran: Ein Hamster." Der Doktor mit dem Hut hatte deutliche Freude an der Präsentation seines Werkes. Ich begann zu zittern. Mir war schwindelig und dieser undefinierbare, physische Schmerz ging mir durch und durch. Es brannte und stach wie Hunger und Angst. Es war mehr als Mitleid für einen toten Hamster. Es war mehr als Schrecken und Abwehr. Es war, als käme etwas aus diesem Ding direkt in mich hinein, als würde der Hamster mir etwas sagen, und es war unerträglich, was er mir mitteilte. In diesem Moment wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor die Besinnung.
Ich erwachte auf der Kunstlederpritsche und erkannte das Büro des Mannes, der sich am Telefon als Liebchen vorgestellt hatte. "Geht es ihnen wieder besser?" erklang seine Stimme vom anderen Ende des Raumes. "Plastination ist beeindruckend, oder?"
Ich sah mich um. Über mir an der Wand leuchtete die weiße Fläche des Röntgenprojektors. Hatte dort zuvor ein Bild gehangen? Jetzt hing dort das graue, durchscheinende Bild eines menschlichen Torsos. Mein Hemd war aus der Hose gerutscht und falsch geknöpft. Drüben im Sessel saß der Mann mit dem Hut, die Hände in einander gefaltet.
"Sie haben einen schwachen Kreislauf. Sie sollten Sport treiben, dann sind sie in 7 Wochen wieder fit." 
Noch ehe ich mich aufrichten konnte, redete er weiter. Er redete schnell und monoton wie zur Beschwörung: "Unsere Spender ermöglichen einzigartige Einblicke in den Menschen. Durch ihre Körperspende können sie dauerhaft von Nutzen sein. Plastination ist der Mittelpunkt meines Lebens. Wir danken allen lebenden und verstorbenen für ihre selbstlose Körperspenden."
Er war aufgestanden. Er hatte seine Arme ausgebreitet wie zur Umarmung. Ich sah in seine Augen unter der Hutkrempe, und sah ihn glücklich, wie ich selten einen Menschen gesehen habe. Ich wollte weg. Meine Beine versagten. Ich fiel vorn über. Liebchen fing mich auf.
"Sie sollten sich schonen..." 
Nein, ich wollte weg.
 "Herr Schmidt, sie sollten auf ihr Herz aufpassen, sowas kommt oft völlig überraschend. Sind sie sicher, dass sie gut heimkommen?"
Ich nickte benommen. Hier rauszukommen war mein einziges Anliegen.
Sonnenstrahlen fielen durch den Spalt am Boden, als sich das Rolltor auf seinen Knopfdruck wieder ratternd öffnete.
"Passen sie auf, die Rampe ist manchmal rutschig." 
Ich taumelte hinaus, wo mir das von der nassen Straße reflektierte Sonnenlicht blendend bis ins Gehirn stach.
"Wenn sie Lust haben, schauen mal wieder vorbei. SPIELEN SIE SCHACH?" 
Irgendwie kam ich heil über die Rampe und die Stahltreppe herunter. Der Weg durch das Bahngelände kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Drei Wochen später entdeckte ich zufällig den Ausweis in meine Brieftasche. Ich hatte einen Organspendeausweis bei mir. Ich wußte nicht woher... Der kleine graue Schein besagte, man solle meinen Körper nach meinem Ableben dem Institut für Plastination zur Verfügung stellen.
Mir wurde schwindelig. Ich schüttelte mit dem Kopf und steckte den Ausweis wieder zurück.  Aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund vergas ich die Sache wieder. Es war wie das abschütteln eine bösen Traumes. 
Weitere vier Wochen später fühlte ich mich auf dem Heimweg plötzlich unwohl. Mein Herz raste, mir war heißkalt. Ich stand im vollen Bus und konnte mich gerade noch an der nächsten Haltestelle zwischen den Menschen hindurch zur Bustür und an die frische Luft retten. Dort lehnte ich am Haltestellenschild. Eine Frau fragte, ob es mir nicht gut ginge. Ich schüttelte den Kopf. Ich erblickte ein Arztschild an der Hauswand, zeigte darauf. Man half mir hinein. Ich fasste mich gerade soweit, dass ich es schaffte meine Krankenkassenkarte aus der Brieftasche zu fingern. Dabei fiel mir der graue Organspendeausweis wieder in die Hände. Ein pochender Schmerz stach mir bis in den Hals. Ich wurde auf einen Stuhl gehieft. Ich wollte das Papierstück zerreißen. Meine Hände zitterten. Ein Arzt kam, stellte fragen. Man nahm mir die Dokumente aus der Hand. Ich antwortete so gut ich konnte. Man machte meinen Arm frei, half mir auf eine Liege. Man hämmerte auf meiner Brust. Die Spritze habe ich nicht mehr gespürt. Alle Wiederbelebungsversuche schlugen fehl.
In der Schwärze des nahenden Todes sah ich weit entfernt einen Lichtpunkt, wie ein Loch mit der Stecknadel in eine schwarze Pappe gestoßen. Ich näherte mich ihm nicht. Etwas hielt mich fest.
Lange, unmessbare Zeit hing ich in der Schwärze. Dann hörte ich dumpf die murmelnde, quäkige Stimme und ich wußte, SIE hatte mich gehalten. Sie pendelte um mich und hielt mich gefangen in ihrem gottlosen Singsang. Ich spürte nichts, wußte aber, was mit meinem Körper geschah: Ich lag in chemischen Bädern. Ich wurde gewendet. Meine Haut wurde abgelöst. Meine Glieder wurden bearbeitet und geformt. Eines Tages wurde es heller. Zuerst sah ich nur verschwommen. Aber es reichte sofort, um den minimalen Lichtpunkt in der Ferne zu überscheinen. Ich befand mich in einem neonbeleuchteten Raum. Selbst als das Bild scharf wurde, dauerte es eine Weile, bis ich erkannte, was ich da sah: Ich sah meine enthäuteten Hände. Die Linke lag auf einer Tischplatte. Die Rechte schwebte darüber, als sei ich im Begriff etwas zu greifen, aber da war nichts. Ich starrte in die Leere. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich atmete nicht.
"Herr Schmidt? - Sind sie da?"
Ich konnte nicht reagieren. Mein Bewusstsein war reduziert auf dem Anblick des Tisches vor mir, auf das Gehör, dass mir dumpf ein langatmiges Hörspiel bot, und auf einen Funken in meinem Inneren, einen mathematischen Punkt in meinem Inneren, so klein, so minimal und doch...
"Ich weiß, dass sie da drin sind. - Sie fragen sich, was mit ihnen geschehen soll. - Sie werden berühmt werden, nicht nur für Minuten, wie es jeder laut Warhol haben kann, nein, für die EWIGKEIT! - Habe ich gesagt 'Plastination ist ein kleines Wunder'? - Ich habe gelogen! - Sie ist ein Großes!"
Das Gesicht Günter von Hagens, geborener Liebchen, rückte in mein Sichtfeld.  Der Leichen-Beuys hatte seinen Hut nicht auf. Ich sah sein spärliches, fransiges Haar, durch das seine schorfige Kopfhaut zu sehen war, wie hinter schmutzigem, gelblichem Glas. Ich sah die Tätowierungen auf seinem Kopf, unzählige Zeichen, Kringel, Runen, Tiersymbole, Streifen, Wellenlinien, Mathematisches, Unheimliches. Er grinste mich an und setzte seinen Hut auf, ohne sich aufzurichten.
"Nächste Woche beginnt die Ausstellung der Körperwelten und dann, Herr Schmidt, tun sie besser daran, ihren Namen zu vergessen. Niemand wird ihn je erfahren. Sie sind DER SCHACHSPIELER. Spielen sie Schach? - Sie werden es lernen. Ich danke für ihre Körperspende!"
Man stellte mich in den Ausstellungssaal. Ich bekam mein Schachbrett. Ich sehe Menschen an mir vorbeigehen und höre sie über mich reden. Ich lausche ihrem Staunen. Ich weiß, dass mein Hirn frei liegt, und dass man mir ins Rückenmark schauen kann. Meine Schädeldecke wurde mir wie ein abgenommener Topfdeckel an der Schläfe befestigt. Sie staunen und schwatzen und manchmal fassen sie mich an, fassen mir in das Gehirn, ins Rückenmark. 

Wir, die anderen Exponate und ich, sind ein großer Erfolg. Wir sind um die ganze Welt gereist. Ich erkenne nicht viele Sprachen, aber Amerikaner erkenne ich. Sie sind hysterisch, arrogant und haben einen erschreckend kleinen Horizont. Einmal sah ich einen vor mir, hörte ihn um mich herumgehen und nahm ihn so nah wahr, dass ich seinen Kaugummiatem fast im Hirn spürte. Dann erschien er wieder vor mir und glotzte auf das Schachbrett. Er beugte sich vor, kam mir ekelhaft nah, stierte mir in die Augen, als sähe er aufgegeilt durch ein Schlüsselloch und sagte: "THIS is art. - This really IS art!"
Ein Künstler gibt toten Steinen eine Seele. Von Hagens ist kein Künstler. Manchmal setzt sich von Hagens vor mich hin und tut so, als spiele er mit mir Schach. Er macht das nur für das Foto, nur für die Journalisten, dann ist er wieder weg. Könnte ich mich bewegen, ich würde ihn schlagen. Seit 15 Jahren befasse ich mich mit nichts anderem als Schach.
Er würde verlieren. Er hätte keine Chance gegen mich. Seit 15 Jahren sitze ich vor diesem Schachbrett,  und weiß fast genauso lange, ich bin betrogen worden.Ein Künstler haucht einer Materie seine Seele ein. Von Hagens nimmt eine Seele und sperrt sie in eine Plastik. Es gibt keinen Ausweg: Ich kann nicht gewinnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen